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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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russisch oder walachisch, so vornehm von oben herab den Stab bricht -- aber
das in die Kirche Gehen ist doch noch lange nicht die unsittlichste aller Moden,
und an dem häufigen Besuch der Vesper ist noch kein Volk gestorben.

Es werden heutzutage in einigen deutschen Korrespondenzen aus London
noch viel schlimmere Dinge von England behauptet. Das Volk sei verrottet,
das Parlament an die Negierung verkauft, der Premier seit 30 Jahren Ru߬
land verschrieben, der Bürgerstand verdummt, der Arbeiter verthiert, die ge-
sammte Presse käuflich, die Sittsamkeit bloße Heuchelei, der Verkehr zumeist
Schwindel, die Gerechtigkeit seil, die Oeffentlichkeit eine Lüge, der Adel ein
Ausbund von Gemeinheit. Daß England unter solchen Verhältnissen nur
drei Tage als, Staat fortbestehen kann, ist in der That ein Räthsel; daß
dabei seine öffentlichen Anstalten, Jndustrieunternehmungen, Handelsflotten
und Reichthümer sich mehre", seine Sitten sich verfeinern, und blos der Drang
nach Reformen, nicht aber die Sucht nach einer großen Revolution sich be¬
merkbar macht, ist ein noch größeres. Das größte Räthsel aber ist, wie es
jene Catone unter den deutschen Correspondenten in diesem unglückseligen Lande
aushalten. Bei solchen Anschauungen vom Land und seinen Bewohnern wäre
es doch ein Herzensbedürfniß, sollte man doch meinen --denn Gefahr des Lebens
nach Amerika, oder aus einem geborstenen Mast zu irgend einem überseeischen
Urvolke zu schwimmen. Die höhere Civilisation unseres Welttheils ist ja nackte
Lüge, Phrase, Heuchelei!

Zwar anderwärts solls noch viel schlimmer sein; in Mitteleuropa allge¬
meinere Bildung, aber noch weniger Freiheit, in Amerika kaum größere Freiheit,
dafür entsetzliche Rohheit. Aber Vergleiche werden von jenen Berichterstattern
über England im Ganzen sorgfältig vermieden, obwol jedem vernünftigen Urtheil
über den Werth eines Dinges ein Vergleich mit einem andern Dinge zu
Grunde liegen sollte, zumal wo es sich um Urtheile über einen Staat handelt,
wobei der Richtung der Zeit, den hochangeschwollenen Bedürfnissen der Indivi¬
duen, dem Ehrgeiz der Stände, den Leidenschaften der Führer, der Einfalt der
Masse, und vor allem den politischen Zuständen der übrigen Welt billige
Rechnung getragen werden müßte. Solche Vergleiche scheuen jene Bericht¬
erstatter zumeist, weil sie fürchten müssen, dadurch mit dem lecken Nachen ihrer
Beweisgründe auf gefährliche Sandbänke auszulaufen. Und doch nennen sie
sich gern "Historiker!" Sie schöpfen ja aus "ersten Quellen".

Hier sind wir auf ein kurzweiliges Thema gerathen. Ernste Gelehrte
verschmähten es nie, die Forschungen anderer Gelehrten zum Ausgangspunkt
weiterer Untersuchungen zu machen; diese modernen Journalisten aber erholen
sich bei jeder Frage im Mittelpunkt der Erde Rath. Sie steigen zu den Blau¬
büchern, zum Portfolio ja bis zu Ghillanys diplomatischem Handbuch hinab;
aber Macaulay, Hallam, Mackintoöh, Mahon, Me, For, Burke sind ihnen


russisch oder walachisch, so vornehm von oben herab den Stab bricht — aber
das in die Kirche Gehen ist doch noch lange nicht die unsittlichste aller Moden,
und an dem häufigen Besuch der Vesper ist noch kein Volk gestorben.

Es werden heutzutage in einigen deutschen Korrespondenzen aus London
noch viel schlimmere Dinge von England behauptet. Das Volk sei verrottet,
das Parlament an die Negierung verkauft, der Premier seit 30 Jahren Ru߬
land verschrieben, der Bürgerstand verdummt, der Arbeiter verthiert, die ge-
sammte Presse käuflich, die Sittsamkeit bloße Heuchelei, der Verkehr zumeist
Schwindel, die Gerechtigkeit seil, die Oeffentlichkeit eine Lüge, der Adel ein
Ausbund von Gemeinheit. Daß England unter solchen Verhältnissen nur
drei Tage als, Staat fortbestehen kann, ist in der That ein Räthsel; daß
dabei seine öffentlichen Anstalten, Jndustrieunternehmungen, Handelsflotten
und Reichthümer sich mehre», seine Sitten sich verfeinern, und blos der Drang
nach Reformen, nicht aber die Sucht nach einer großen Revolution sich be¬
merkbar macht, ist ein noch größeres. Das größte Räthsel aber ist, wie es
jene Catone unter den deutschen Correspondenten in diesem unglückseligen Lande
aushalten. Bei solchen Anschauungen vom Land und seinen Bewohnern wäre
es doch ein Herzensbedürfniß, sollte man doch meinen —denn Gefahr des Lebens
nach Amerika, oder aus einem geborstenen Mast zu irgend einem überseeischen
Urvolke zu schwimmen. Die höhere Civilisation unseres Welttheils ist ja nackte
Lüge, Phrase, Heuchelei!

Zwar anderwärts solls noch viel schlimmer sein; in Mitteleuropa allge¬
meinere Bildung, aber noch weniger Freiheit, in Amerika kaum größere Freiheit,
dafür entsetzliche Rohheit. Aber Vergleiche werden von jenen Berichterstattern
über England im Ganzen sorgfältig vermieden, obwol jedem vernünftigen Urtheil
über den Werth eines Dinges ein Vergleich mit einem andern Dinge zu
Grunde liegen sollte, zumal wo es sich um Urtheile über einen Staat handelt,
wobei der Richtung der Zeit, den hochangeschwollenen Bedürfnissen der Indivi¬
duen, dem Ehrgeiz der Stände, den Leidenschaften der Führer, der Einfalt der
Masse, und vor allem den politischen Zuständen der übrigen Welt billige
Rechnung getragen werden müßte. Solche Vergleiche scheuen jene Bericht¬
erstatter zumeist, weil sie fürchten müssen, dadurch mit dem lecken Nachen ihrer
Beweisgründe auf gefährliche Sandbänke auszulaufen. Und doch nennen sie
sich gern „Historiker!" Sie schöpfen ja aus „ersten Quellen".

Hier sind wir auf ein kurzweiliges Thema gerathen. Ernste Gelehrte
verschmähten es nie, die Forschungen anderer Gelehrten zum Ausgangspunkt
weiterer Untersuchungen zu machen; diese modernen Journalisten aber erholen
sich bei jeder Frage im Mittelpunkt der Erde Rath. Sie steigen zu den Blau¬
büchern, zum Portfolio ja bis zu Ghillanys diplomatischem Handbuch hinab;
aber Macaulay, Hallam, Mackintoöh, Mahon, Me, For, Burke sind ihnen


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[0026] russisch oder walachisch, so vornehm von oben herab den Stab bricht — aber das in die Kirche Gehen ist doch noch lange nicht die unsittlichste aller Moden, und an dem häufigen Besuch der Vesper ist noch kein Volk gestorben. Es werden heutzutage in einigen deutschen Korrespondenzen aus London noch viel schlimmere Dinge von England behauptet. Das Volk sei verrottet, das Parlament an die Negierung verkauft, der Premier seit 30 Jahren Ru߬ land verschrieben, der Bürgerstand verdummt, der Arbeiter verthiert, die ge- sammte Presse käuflich, die Sittsamkeit bloße Heuchelei, der Verkehr zumeist Schwindel, die Gerechtigkeit seil, die Oeffentlichkeit eine Lüge, der Adel ein Ausbund von Gemeinheit. Daß England unter solchen Verhältnissen nur drei Tage als, Staat fortbestehen kann, ist in der That ein Räthsel; daß dabei seine öffentlichen Anstalten, Jndustrieunternehmungen, Handelsflotten und Reichthümer sich mehre», seine Sitten sich verfeinern, und blos der Drang nach Reformen, nicht aber die Sucht nach einer großen Revolution sich be¬ merkbar macht, ist ein noch größeres. Das größte Räthsel aber ist, wie es jene Catone unter den deutschen Correspondenten in diesem unglückseligen Lande aushalten. Bei solchen Anschauungen vom Land und seinen Bewohnern wäre es doch ein Herzensbedürfniß, sollte man doch meinen —denn Gefahr des Lebens nach Amerika, oder aus einem geborstenen Mast zu irgend einem überseeischen Urvolke zu schwimmen. Die höhere Civilisation unseres Welttheils ist ja nackte Lüge, Phrase, Heuchelei! Zwar anderwärts solls noch viel schlimmer sein; in Mitteleuropa allge¬ meinere Bildung, aber noch weniger Freiheit, in Amerika kaum größere Freiheit, dafür entsetzliche Rohheit. Aber Vergleiche werden von jenen Berichterstattern über England im Ganzen sorgfältig vermieden, obwol jedem vernünftigen Urtheil über den Werth eines Dinges ein Vergleich mit einem andern Dinge zu Grunde liegen sollte, zumal wo es sich um Urtheile über einen Staat handelt, wobei der Richtung der Zeit, den hochangeschwollenen Bedürfnissen der Indivi¬ duen, dem Ehrgeiz der Stände, den Leidenschaften der Führer, der Einfalt der Masse, und vor allem den politischen Zuständen der übrigen Welt billige Rechnung getragen werden müßte. Solche Vergleiche scheuen jene Bericht¬ erstatter zumeist, weil sie fürchten müssen, dadurch mit dem lecken Nachen ihrer Beweisgründe auf gefährliche Sandbänke auszulaufen. Und doch nennen sie sich gern „Historiker!" Sie schöpfen ja aus „ersten Quellen". Hier sind wir auf ein kurzweiliges Thema gerathen. Ernste Gelehrte verschmähten es nie, die Forschungen anderer Gelehrten zum Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen zu machen; diese modernen Journalisten aber erholen sich bei jeder Frage im Mittelpunkt der Erde Rath. Sie steigen zu den Blau¬ büchern, zum Portfolio ja bis zu Ghillanys diplomatischem Handbuch hinab; aber Macaulay, Hallam, Mackintoöh, Mahon, Me, For, Burke sind ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/26>, abgerufen am 22.12.2024.