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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Die Verpflichtung also ist: dreihundertmal im Jahre (am Sonntag ist die
englische Post geschlossen) zu schreiben, daß Lord Palmerston seit dreißig Jah¬
ren und darüber mit Bewußtsein für Nußland arbeite (siehe Blaubücher), daß er
von der Fürstin Lieven dafür baar bezahlt wurde (siehe Urquhart), daß er
Englands Handel und Flotte zu Grunde richtete, um Rußland zu bereichern
(siehe den Beweis in der furchtbaren Flottenliste und den großartigen englischen
Handelsausweisen der letzten Jahre), daß er endlich der Gesetzlosigkeit im
Innern Thür und Thor geöffnet habe (viele common lan),--

Das englische Volk hat sich von jeher in Extremen gefallen. Seine
abenteuerlichen Sprünge von den heißesten Ausschweifungen in den eiskalten
Puritanismus, von der lächerlichsten Prüderie in die widerwärtigste Aus¬
gelassenheit geschahen Jahrhunderte lang plötzlich und mit peinlicher Energie.
Es hat vieler Jahre bedurft, bis sie drü Weg der Mitte fanden, und viele
behaupten, daß sie ihn bis auf den heutigen Tag noch immer vergebens suchen.
Leichtfüßige Kumpane und Weinreisende, die einen kurzen Ausflug nach London
machen, erzählen ihren Kameraden zu Hause auffallende Geschichten von der
haarsträubenden Prüderie englischer Frauen, dafür bewirthet sie der Kamerad,
den mittlerweile sein guter Stern nach Paris geführt hatte, mit lustigen
Abenteuern, deren Held er nebst einem Dutzend der reizendsten Französinnen
gewesen war. Der erstere hatte keinen Fuß aus die Schwelle eines ordentlichen
englischen Hauses gesetzt, und dem andern ging es gradeso in Paris. Wer
dagegen die französische Hauptstadt genauer kennt, weiß, daß die Frauen an¬
ständiger Häuser daselbst ebenso honett sind, wie die andrer Länder, und der
Fremde, der mit englischen Familien Umgang hat, wundert sich schon beim
ersten warmen Händedruck des Empfangs von Frauen- und Mädcheuhand, wo
denn die verschrieene Prüderie der Engländerinnen stecke. Aber einer folgt
dem andern nach und oberflächliche Urtheile verschleppen sich viel leichter, als
Scharlach und Blattern. --

Wenn der gebildete Engländer gemessener im Ausdrucke ist, als der Fran¬
zose, so rechnen wir dies seinem Gefühl zur Ehre an. Daß seine neuere
Literatur keuscher ist, als die seiner Nachbarn, daß seine neuen Romanschreiber
ihre Stoffe nicht lediglich aus der sogenannten äsmi-mouÄe nehmen, die hier
am Ende grade wie drüben ihre Vertreterinnen hat, dafür wissen ihm alle
ordentlichen Mütter Deutschlands Dank, die ihren Töchtern einen bildenden
Roman des Auslands in die Hand geben wollen. Und ob das Vaudeville
eine Nation wirklich der Gottähnlichkeit näher bringt als die Bibel, bleibt
noch zu beweisen. --

Es wird behauptet, der Engländer gehe in die Kirche, weil es so Mode
ist, weils der Nachbar thut. Zugegeben -- obwol es immer einen Mangel
an Bildung verräth, wenn jemand über eine ganze Nation, sie heiße britisch,


Grenzboten. I. -I8S7. Z

Die Verpflichtung also ist: dreihundertmal im Jahre (am Sonntag ist die
englische Post geschlossen) zu schreiben, daß Lord Palmerston seit dreißig Jah¬
ren und darüber mit Bewußtsein für Nußland arbeite (siehe Blaubücher), daß er
von der Fürstin Lieven dafür baar bezahlt wurde (siehe Urquhart), daß er
Englands Handel und Flotte zu Grunde richtete, um Rußland zu bereichern
(siehe den Beweis in der furchtbaren Flottenliste und den großartigen englischen
Handelsausweisen der letzten Jahre), daß er endlich der Gesetzlosigkeit im
Innern Thür und Thor geöffnet habe (viele common lan),--

Das englische Volk hat sich von jeher in Extremen gefallen. Seine
abenteuerlichen Sprünge von den heißesten Ausschweifungen in den eiskalten
Puritanismus, von der lächerlichsten Prüderie in die widerwärtigste Aus¬
gelassenheit geschahen Jahrhunderte lang plötzlich und mit peinlicher Energie.
Es hat vieler Jahre bedurft, bis sie drü Weg der Mitte fanden, und viele
behaupten, daß sie ihn bis auf den heutigen Tag noch immer vergebens suchen.
Leichtfüßige Kumpane und Weinreisende, die einen kurzen Ausflug nach London
machen, erzählen ihren Kameraden zu Hause auffallende Geschichten von der
haarsträubenden Prüderie englischer Frauen, dafür bewirthet sie der Kamerad,
den mittlerweile sein guter Stern nach Paris geführt hatte, mit lustigen
Abenteuern, deren Held er nebst einem Dutzend der reizendsten Französinnen
gewesen war. Der erstere hatte keinen Fuß aus die Schwelle eines ordentlichen
englischen Hauses gesetzt, und dem andern ging es gradeso in Paris. Wer
dagegen die französische Hauptstadt genauer kennt, weiß, daß die Frauen an¬
ständiger Häuser daselbst ebenso honett sind, wie die andrer Länder, und der
Fremde, der mit englischen Familien Umgang hat, wundert sich schon beim
ersten warmen Händedruck des Empfangs von Frauen- und Mädcheuhand, wo
denn die verschrieene Prüderie der Engländerinnen stecke. Aber einer folgt
dem andern nach und oberflächliche Urtheile verschleppen sich viel leichter, als
Scharlach und Blattern. —

Wenn der gebildete Engländer gemessener im Ausdrucke ist, als der Fran¬
zose, so rechnen wir dies seinem Gefühl zur Ehre an. Daß seine neuere
Literatur keuscher ist, als die seiner Nachbarn, daß seine neuen Romanschreiber
ihre Stoffe nicht lediglich aus der sogenannten äsmi-mouÄe nehmen, die hier
am Ende grade wie drüben ihre Vertreterinnen hat, dafür wissen ihm alle
ordentlichen Mütter Deutschlands Dank, die ihren Töchtern einen bildenden
Roman des Auslands in die Hand geben wollen. Und ob das Vaudeville
eine Nation wirklich der Gottähnlichkeit näher bringt als die Bibel, bleibt
noch zu beweisen. —

Es wird behauptet, der Engländer gehe in die Kirche, weil es so Mode
ist, weils der Nachbar thut. Zugegeben — obwol es immer einen Mangel
an Bildung verräth, wenn jemand über eine ganze Nation, sie heiße britisch,


Grenzboten. I. -I8S7. Z
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/25>, abgerufen am 22.12.2024.