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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Consulats und des Kaiserreichs, 12 Bde., 1843--1836. Für das un¬
mittelbare Gedeihen des Landes war es ein zweifelhafter Vortheil, daß er nach
der Reihe so ziemlich alle Ministerien übernahm. Zwar arbeitete er sich schnell
genug hinein, aber das Land mußte doch die Kosten tragen. Ganz anders,
wenn man es als eine Vorbereitung für den künftigen Geschichtschreiber be¬
trachtet. Nie hat ein Historiker unter so günstigen Umständen seine Aufgabe
übernommen, als der ehemalige Minister, dem nun alle Zweige der Verwal¬
tung, alle Mysterien des öffentlichen Lebens bekannt waren, und dem sich in¬
folge dessen alle Archive ausschlossen. Das ist die erste Bedeutung dieses
Buchs. Es behandelte die Periode, die jeden Franzosen am lebhaftesten inter-
essiren mußte, die noch keinen Bearbeiter gefunden hatte "), und es behandelte
sie zum Theil nach ganz unbekannten Quellen von der unerhörtesten Wichtig¬
keit. Nicht leicht wird sich eine Regierung entschließen, über einen erst kürzlich
vergangenen Zeitraum, der noch mit allen Interessen der Gegenwart stark ver¬
wachsen ist, einem Schriftsteller so liberale Aufschlüsse zu geben, wenn dieser
Schriftsteller nicht bereits in den Kreis der Eingeweihten gehört. Sodann
war diese Periode sür das Talent unsers Geschichtschreibers viel mehr geeignet,
als die ersten Jahre der Revolution. Die Ideen hatten Schiffbruch gelitten,
es handelte sich nur noch um Interessen und Actionen, und zwar um große
Thaten, welche die Einbildungskrast so beschäftigten, daß aller Parteigeist da¬
vor verstummte. Nicht auf daS Urtheil kam es also an, sondern auf die Dar¬
stellung.

Ueber die Aufgabe der Geschichtschreibung, wie er sie versteht, belehrt
uns Thiers im Nachwort zu seiner Geschichte des Kaiserreichs ziemlich aus¬
führlich. An die Spitze seiner Anforderungen stellt er die Genauigkeit in den
Thatsachen, wobei man freilich daran erinnern muß, daß er fast ausschließlich
französische Quellen benutzt. Besser als die meisten deutschen Geschichtschreiber
versteht er seine Untersuchungen zu einem Abschluß zu bringen. Wenn er die
materiellen Belege für eine Thatsache nicht auffindet, so urtheilt er als Ge¬
schworner nach Jndicien. Es ist das ein Bild, welches er selbst anwendet,
und wobei er nur einen Umstand übersieht, daß der Geschworne über den
Thatbestand ein Urtheil fällen muß, während es dem Geschichtschreiber frei¬
steht zu sagen: dies weiß ich nicht, und die Erklärung dieses Nichtwissens
wird zuweilen zur Pflicht, freilich einer Pflicht, zu welcher sich die Franzosen
nur in den seltensten Fällen verstehen. Die englischen Kritiker haben daher
mehrfach Gelegenheit gefunden, dem französischen Geschichtschreiber ziemlich
starke Versehen nachzuweisen.



*) Zu den bessern Vorarbeiten gehörte die llistoirs <1os Oabinets 6e I'Lurox-s psndant Is
Le>usu>s,t et t'^wxiro, perils avso is" äoouwsns rsunis aux sreliives <1es sSÄrss etrÄnZsiss
von Armand Lefebvre.
Grenzboten. I. -1837. 28

Consulats und des Kaiserreichs, 12 Bde., 1843—1836. Für das un¬
mittelbare Gedeihen des Landes war es ein zweifelhafter Vortheil, daß er nach
der Reihe so ziemlich alle Ministerien übernahm. Zwar arbeitete er sich schnell
genug hinein, aber das Land mußte doch die Kosten tragen. Ganz anders,
wenn man es als eine Vorbereitung für den künftigen Geschichtschreiber be¬
trachtet. Nie hat ein Historiker unter so günstigen Umständen seine Aufgabe
übernommen, als der ehemalige Minister, dem nun alle Zweige der Verwal¬
tung, alle Mysterien des öffentlichen Lebens bekannt waren, und dem sich in¬
folge dessen alle Archive ausschlossen. Das ist die erste Bedeutung dieses
Buchs. Es behandelte die Periode, die jeden Franzosen am lebhaftesten inter-
essiren mußte, die noch keinen Bearbeiter gefunden hatte "), und es behandelte
sie zum Theil nach ganz unbekannten Quellen von der unerhörtesten Wichtig¬
keit. Nicht leicht wird sich eine Regierung entschließen, über einen erst kürzlich
vergangenen Zeitraum, der noch mit allen Interessen der Gegenwart stark ver¬
wachsen ist, einem Schriftsteller so liberale Aufschlüsse zu geben, wenn dieser
Schriftsteller nicht bereits in den Kreis der Eingeweihten gehört. Sodann
war diese Periode sür das Talent unsers Geschichtschreibers viel mehr geeignet,
als die ersten Jahre der Revolution. Die Ideen hatten Schiffbruch gelitten,
es handelte sich nur noch um Interessen und Actionen, und zwar um große
Thaten, welche die Einbildungskrast so beschäftigten, daß aller Parteigeist da¬
vor verstummte. Nicht auf daS Urtheil kam es also an, sondern auf die Dar¬
stellung.

Ueber die Aufgabe der Geschichtschreibung, wie er sie versteht, belehrt
uns Thiers im Nachwort zu seiner Geschichte des Kaiserreichs ziemlich aus¬
führlich. An die Spitze seiner Anforderungen stellt er die Genauigkeit in den
Thatsachen, wobei man freilich daran erinnern muß, daß er fast ausschließlich
französische Quellen benutzt. Besser als die meisten deutschen Geschichtschreiber
versteht er seine Untersuchungen zu einem Abschluß zu bringen. Wenn er die
materiellen Belege für eine Thatsache nicht auffindet, so urtheilt er als Ge¬
schworner nach Jndicien. Es ist das ein Bild, welches er selbst anwendet,
und wobei er nur einen Umstand übersieht, daß der Geschworne über den
Thatbestand ein Urtheil fällen muß, während es dem Geschichtschreiber frei¬
steht zu sagen: dies weiß ich nicht, und die Erklärung dieses Nichtwissens
wird zuweilen zur Pflicht, freilich einer Pflicht, zu welcher sich die Franzosen
nur in den seltensten Fällen verstehen. Die englischen Kritiker haben daher
mehrfach Gelegenheit gefunden, dem französischen Geschichtschreiber ziemlich
starke Versehen nachzuweisen.



*) Zu den bessern Vorarbeiten gehörte die llistoirs <1os Oabinets 6e I'Lurox-s psndant Is
Le>usu>s,t et t'^wxiro, perils avso is« äoouwsns rsunis aux sreliives <1es sSÄrss etrÄnZsiss
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[0225] Consulats und des Kaiserreichs, 12 Bde., 1843—1836. Für das un¬ mittelbare Gedeihen des Landes war es ein zweifelhafter Vortheil, daß er nach der Reihe so ziemlich alle Ministerien übernahm. Zwar arbeitete er sich schnell genug hinein, aber das Land mußte doch die Kosten tragen. Ganz anders, wenn man es als eine Vorbereitung für den künftigen Geschichtschreiber be¬ trachtet. Nie hat ein Historiker unter so günstigen Umständen seine Aufgabe übernommen, als der ehemalige Minister, dem nun alle Zweige der Verwal¬ tung, alle Mysterien des öffentlichen Lebens bekannt waren, und dem sich in¬ folge dessen alle Archive ausschlossen. Das ist die erste Bedeutung dieses Buchs. Es behandelte die Periode, die jeden Franzosen am lebhaftesten inter- essiren mußte, die noch keinen Bearbeiter gefunden hatte "), und es behandelte sie zum Theil nach ganz unbekannten Quellen von der unerhörtesten Wichtig¬ keit. Nicht leicht wird sich eine Regierung entschließen, über einen erst kürzlich vergangenen Zeitraum, der noch mit allen Interessen der Gegenwart stark ver¬ wachsen ist, einem Schriftsteller so liberale Aufschlüsse zu geben, wenn dieser Schriftsteller nicht bereits in den Kreis der Eingeweihten gehört. Sodann war diese Periode sür das Talent unsers Geschichtschreibers viel mehr geeignet, als die ersten Jahre der Revolution. Die Ideen hatten Schiffbruch gelitten, es handelte sich nur noch um Interessen und Actionen, und zwar um große Thaten, welche die Einbildungskrast so beschäftigten, daß aller Parteigeist da¬ vor verstummte. Nicht auf daS Urtheil kam es also an, sondern auf die Dar¬ stellung. Ueber die Aufgabe der Geschichtschreibung, wie er sie versteht, belehrt uns Thiers im Nachwort zu seiner Geschichte des Kaiserreichs ziemlich aus¬ führlich. An die Spitze seiner Anforderungen stellt er die Genauigkeit in den Thatsachen, wobei man freilich daran erinnern muß, daß er fast ausschließlich französische Quellen benutzt. Besser als die meisten deutschen Geschichtschreiber versteht er seine Untersuchungen zu einem Abschluß zu bringen. Wenn er die materiellen Belege für eine Thatsache nicht auffindet, so urtheilt er als Ge¬ schworner nach Jndicien. Es ist das ein Bild, welches er selbst anwendet, und wobei er nur einen Umstand übersieht, daß der Geschworne über den Thatbestand ein Urtheil fällen muß, während es dem Geschichtschreiber frei¬ steht zu sagen: dies weiß ich nicht, und die Erklärung dieses Nichtwissens wird zuweilen zur Pflicht, freilich einer Pflicht, zu welcher sich die Franzosen nur in den seltensten Fällen verstehen. Die englischen Kritiker haben daher mehrfach Gelegenheit gefunden, dem französischen Geschichtschreiber ziemlich starke Versehen nachzuweisen. *) Zu den bessern Vorarbeiten gehörte die llistoirs <1os Oabinets 6e I'Lurox-s psndant Is Le>usu>s,t et t'^wxiro, perils avso is« äoouwsns rsunis aux sreliives <1es sSÄrss etrÄnZsiss von Armand Lefebvre. Grenzboten. I. -1837. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/225>, abgerufen am 23.07.2024.