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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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heit, nicht auf die Tugend ein, sondern auf die Unterdrückung alles Aberglaubens
und aller Phantastik. Als Noltairianer nimmt er es auch mit der Lieder¬
lichkeit, den Bestechungen, kurz mit dem ganzen Wust von Unstttlichkeit nicht
so genau, durch den sich die meisten Führer der Revolution, namentlich die
Partei Dantons, befleckte; ja, was schlimmer ist, er vertritt sie nicht blos
durch ein beschönigendes Urtheil, sondern er verfälscht die Geschichte, indem
er ausgemachte Thatsachen wissentlich ignorirt. Die Blutthaten, welche die
Phantasie erregen, werden erzählt, die eigentliche Gemeinheit und Nichts¬
würdigkeit dagegen bleibt im Hintergrund. Von dem Cloak jener Zeit be¬
kommt man doch kein richtiges Bild, weil die Farben nicht richtig gemischt
sind. Der Voltairianer hat eigentlich vor nichts Respect, als vor der Kraft
und dem Erfolg. Kräftige und namentlich geistvolle Menschen werden von
der sittlichen Instanz erimirt. Das momentan Zweckmäßige entscheidet aber
bei ihm auch in Beziehung auf diejenigen Regierungshandlungen, die er in
dem vorher erwähnten Nachwort als die interessantesten für den Geschichtschreiber
bezeichnet. Wenn er die Assignaten und das Marimum des Konvents recht¬
fertigt, so ist er in den spätern Bänden gar nicht abgeneigt, für die Con-
tinentalsperre in die Schranken zu treten. In beiden Fällen ist es wieder der
Gedanke des momentan Zweckmäßiger, was ihn bestimmt, und doch ist der
finanzielle Schwindel der Republik und die liederliche Verwaltung an der
spätern Erschöpfung Frankreichs und an dem entsetzlichen Materialismus des
gegenwärtigen Lebens ebenso oder noch mehr Schuld gewesen, als der Terro-
rismus. Damals hat man gelernt, nicht blos in der hohen Politik, sondern
in den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens aus der Hand in den Mund zu
leben*). Gauner und Spitzbuben haben sich der Gesellschaft bemächtigt.
Das junge Frankreich hat diese Lection seiner republikanischen Vorfahren nicht
vergessen. So lächerlich es klingt, wenn die neupreußische Reaction von einer
Jmmobilisirung des Capitals faselt -- der Wunsch an sich ist gerechtfertigt,
wenn man jenen Schwindel ins Auge faßt, der mit den Assignaten anfing.
In der Volkswirthschaft geht es aber Thiers grade so wie im Rechtswesen
und in der Sittlichkeit; er hat keine festen Principien, und was unmittelbar
damit zusammenhängt, er hat auch keine vollständige Kenntniß der Thatsachen,
so viel einzelne Thatsachen ihm auch zu Gebote stehen.

DaS dritte Moment, für die Revolution in die Schranken zu treten, ist
die Freude deS geistvollen Erzählers an der großen Kraftentwicklung jener
Zeit; und dies ist der Unterschied gegen Mignet. Mignet besticht den Verstand
des Lesers durch seine concentrirte Logik, Thiers ergreift seine Phantasie durch
glänzende Schilderung jener ans Wunderbare streifenden Ereignisse. Als Er-



") Man sagte von Thiers selbst: II "g moyus An lenciemg-in.
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heit, nicht auf die Tugend ein, sondern auf die Unterdrückung alles Aberglaubens
und aller Phantastik. Als Noltairianer nimmt er es auch mit der Lieder¬
lichkeit, den Bestechungen, kurz mit dem ganzen Wust von Unstttlichkeit nicht
so genau, durch den sich die meisten Führer der Revolution, namentlich die
Partei Dantons, befleckte; ja, was schlimmer ist, er vertritt sie nicht blos
durch ein beschönigendes Urtheil, sondern er verfälscht die Geschichte, indem
er ausgemachte Thatsachen wissentlich ignorirt. Die Blutthaten, welche die
Phantasie erregen, werden erzählt, die eigentliche Gemeinheit und Nichts¬
würdigkeit dagegen bleibt im Hintergrund. Von dem Cloak jener Zeit be¬
kommt man doch kein richtiges Bild, weil die Farben nicht richtig gemischt
sind. Der Voltairianer hat eigentlich vor nichts Respect, als vor der Kraft
und dem Erfolg. Kräftige und namentlich geistvolle Menschen werden von
der sittlichen Instanz erimirt. Das momentan Zweckmäßige entscheidet aber
bei ihm auch in Beziehung auf diejenigen Regierungshandlungen, die er in
dem vorher erwähnten Nachwort als die interessantesten für den Geschichtschreiber
bezeichnet. Wenn er die Assignaten und das Marimum des Konvents recht¬
fertigt, so ist er in den spätern Bänden gar nicht abgeneigt, für die Con-
tinentalsperre in die Schranken zu treten. In beiden Fällen ist es wieder der
Gedanke des momentan Zweckmäßiger, was ihn bestimmt, und doch ist der
finanzielle Schwindel der Republik und die liederliche Verwaltung an der
spätern Erschöpfung Frankreichs und an dem entsetzlichen Materialismus des
gegenwärtigen Lebens ebenso oder noch mehr Schuld gewesen, als der Terro-
rismus. Damals hat man gelernt, nicht blos in der hohen Politik, sondern
in den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens aus der Hand in den Mund zu
leben*). Gauner und Spitzbuben haben sich der Gesellschaft bemächtigt.
Das junge Frankreich hat diese Lection seiner republikanischen Vorfahren nicht
vergessen. So lächerlich es klingt, wenn die neupreußische Reaction von einer
Jmmobilisirung des Capitals faselt — der Wunsch an sich ist gerechtfertigt,
wenn man jenen Schwindel ins Auge faßt, der mit den Assignaten anfing.
In der Volkswirthschaft geht es aber Thiers grade so wie im Rechtswesen
und in der Sittlichkeit; er hat keine festen Principien, und was unmittelbar
damit zusammenhängt, er hat auch keine vollständige Kenntniß der Thatsachen,
so viel einzelne Thatsachen ihm auch zu Gebote stehen.

DaS dritte Moment, für die Revolution in die Schranken zu treten, ist
die Freude deS geistvollen Erzählers an der großen Kraftentwicklung jener
Zeit; und dies ist der Unterschied gegen Mignet. Mignet besticht den Verstand
des Lesers durch seine concentrirte Logik, Thiers ergreift seine Phantasie durch
glänzende Schilderung jener ans Wunderbare streifenden Ereignisse. Als Er-



") Man sagte von Thiers selbst: II «g moyus An lenciemg-in.
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[0219] heit, nicht auf die Tugend ein, sondern auf die Unterdrückung alles Aberglaubens und aller Phantastik. Als Noltairianer nimmt er es auch mit der Lieder¬ lichkeit, den Bestechungen, kurz mit dem ganzen Wust von Unstttlichkeit nicht so genau, durch den sich die meisten Führer der Revolution, namentlich die Partei Dantons, befleckte; ja, was schlimmer ist, er vertritt sie nicht blos durch ein beschönigendes Urtheil, sondern er verfälscht die Geschichte, indem er ausgemachte Thatsachen wissentlich ignorirt. Die Blutthaten, welche die Phantasie erregen, werden erzählt, die eigentliche Gemeinheit und Nichts¬ würdigkeit dagegen bleibt im Hintergrund. Von dem Cloak jener Zeit be¬ kommt man doch kein richtiges Bild, weil die Farben nicht richtig gemischt sind. Der Voltairianer hat eigentlich vor nichts Respect, als vor der Kraft und dem Erfolg. Kräftige und namentlich geistvolle Menschen werden von der sittlichen Instanz erimirt. Das momentan Zweckmäßige entscheidet aber bei ihm auch in Beziehung auf diejenigen Regierungshandlungen, die er in dem vorher erwähnten Nachwort als die interessantesten für den Geschichtschreiber bezeichnet. Wenn er die Assignaten und das Marimum des Konvents recht¬ fertigt, so ist er in den spätern Bänden gar nicht abgeneigt, für die Con- tinentalsperre in die Schranken zu treten. In beiden Fällen ist es wieder der Gedanke des momentan Zweckmäßiger, was ihn bestimmt, und doch ist der finanzielle Schwindel der Republik und die liederliche Verwaltung an der spätern Erschöpfung Frankreichs und an dem entsetzlichen Materialismus des gegenwärtigen Lebens ebenso oder noch mehr Schuld gewesen, als der Terro- rismus. Damals hat man gelernt, nicht blos in der hohen Politik, sondern in den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens aus der Hand in den Mund zu leben*). Gauner und Spitzbuben haben sich der Gesellschaft bemächtigt. Das junge Frankreich hat diese Lection seiner republikanischen Vorfahren nicht vergessen. So lächerlich es klingt, wenn die neupreußische Reaction von einer Jmmobilisirung des Capitals faselt — der Wunsch an sich ist gerechtfertigt, wenn man jenen Schwindel ins Auge faßt, der mit den Assignaten anfing. In der Volkswirthschaft geht es aber Thiers grade so wie im Rechtswesen und in der Sittlichkeit; er hat keine festen Principien, und was unmittelbar damit zusammenhängt, er hat auch keine vollständige Kenntniß der Thatsachen, so viel einzelne Thatsachen ihm auch zu Gebote stehen. DaS dritte Moment, für die Revolution in die Schranken zu treten, ist die Freude deS geistvollen Erzählers an der großen Kraftentwicklung jener Zeit; und dies ist der Unterschied gegen Mignet. Mignet besticht den Verstand des Lesers durch seine concentrirte Logik, Thiers ergreift seine Phantasie durch glänzende Schilderung jener ans Wunderbare streifenden Ereignisse. Als Er- ") Man sagte von Thiers selbst: II «g moyus An lenciemg-in. 27*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/219>, abgerufen am 23.07.2024.