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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Man kann als Franzose über die Demüthigung eines feindlichen Staates
eine große Befriedigung empfinden, aber man kann diejenige Politik, die an
dieser Demüthigung schuld war, nicht gut heißen. Den militärischen Gegnern
Napoleons läßt Thiers eher Gerechtigkeit widerfahren, weil ihn hier die tech¬
nische Seite fesselt, aber die Patrioten, die geistig auf ihr Volk wirkten, in.
derselben Weise, wie er auf die Franzosen zu wirken wünscht, finden bei ihm
kein Verständniß. Von der Berechtigung anderer Nationen hat er keinen
Begriff. Es kommt hinzu, daß sein Ideal von der Größe seines Volks sich
den trivialsten Vorurtheilen anschließt. Er will den Ausländern imponiren,
und aus diesem Gesichtspunkt rechtfertigt er den Wohlfahrtsausschuß, so wie
den napoleonischen Despotismus. Daß diese scheinbare Machtentwicklung die
wahre Lebenskraft des Volks untergrub, seinen Wohlstand, seine Bildung,
seine Freiheit, das vergißt er über dem Siegeslärm der ruhmgekrönten Legio¬
nen. Freilich vertheidigt er nicht unbedingt die Eroberungspolitik des Direk¬
toriums, des Konsulats, deö Kaiserreichs. Er führt es einmal sogar sehr
schön und treffend aus, daß es für die höchste Gewalt ein Unglück ist, keine
Controle neben sich zu haben, und er weiß aus dieser Betrachtung die Zweck¬
mäßigkeit des Repräsentativsystems sehr verständig herzuleiten. Aber einmal
dauert diese Ueberlegung nur für Augenblicke, er vergißt sie sehr bald in dem
Rausch des -Erfolgs; sodann beschönigt er auch die ärgsten Verirrungen durch
mitwirkende Umstände. Der Staatsstreich des Brumaire wird gerechtfertigt,
weil er von vielen Seiten gewünscht und provocirt wurde, und die grenzenlose
Eroberungspolitik, weil die fremden Mächte den Kaiser fortwährend reizten.
DaS Letztere heißt gradezu der Geschichte ins Gesicht schlagen. Ebenso be¬
denklich, als diese Rechtfertigung Napoleons, ist die namentlich durch Thiers
verbreitete Meinung, daß das Schreckenssystem Frankreich gerettet habe. Nicht
als ob der Gedanke durchweg unrichtig wäre, denn eine in sich selbst zerfallene
Regierung, wie die vor dem 1,0. August 1792, war unfähig, dem Stoß des
Auslandes zu widerstehen, und eine straffere Concentrirung der Gewalt war
nothwendig. Aber er dehnt den Gedanken zu weit aus, indem er auch die
unsinnigen Greuelthaten, die nicht blos von dem Wohlfahrtsausschuß, sondern
namentlich von dessen untergeordneten Agenten ausgeübt wurden, Greuel¬
thaten, die weit über die Bluthochzeit hinausgehen, als nothwendig darstellt.
Er macht es grade wie der Wohlfahrtsausschuß selbst, den Menschen wie Lebon,
Carrier u. s. w. ihres Wahnsinns wegen auch anekelten, der sie aber doch in
Schutz nahm, um nicht das Ansehn der Regierungsgewalt zu untergraben.
Kurz, er stellt überall das momentan Zweckmäßige über das Recht, nicht aus
Reflexion, sondern aus angebornem französischem Jnstinct, und dies führt uns
auf sein zweites Motiv, die Revolution zu vertheidigen.'

Thiers ist entschiedener Voltairianer; es kommt ihm nicht auf die Frei-


Man kann als Franzose über die Demüthigung eines feindlichen Staates
eine große Befriedigung empfinden, aber man kann diejenige Politik, die an
dieser Demüthigung schuld war, nicht gut heißen. Den militärischen Gegnern
Napoleons läßt Thiers eher Gerechtigkeit widerfahren, weil ihn hier die tech¬
nische Seite fesselt, aber die Patrioten, die geistig auf ihr Volk wirkten, in.
derselben Weise, wie er auf die Franzosen zu wirken wünscht, finden bei ihm
kein Verständniß. Von der Berechtigung anderer Nationen hat er keinen
Begriff. Es kommt hinzu, daß sein Ideal von der Größe seines Volks sich
den trivialsten Vorurtheilen anschließt. Er will den Ausländern imponiren,
und aus diesem Gesichtspunkt rechtfertigt er den Wohlfahrtsausschuß, so wie
den napoleonischen Despotismus. Daß diese scheinbare Machtentwicklung die
wahre Lebenskraft des Volks untergrub, seinen Wohlstand, seine Bildung,
seine Freiheit, das vergißt er über dem Siegeslärm der ruhmgekrönten Legio¬
nen. Freilich vertheidigt er nicht unbedingt die Eroberungspolitik des Direk¬
toriums, des Konsulats, deö Kaiserreichs. Er führt es einmal sogar sehr
schön und treffend aus, daß es für die höchste Gewalt ein Unglück ist, keine
Controle neben sich zu haben, und er weiß aus dieser Betrachtung die Zweck¬
mäßigkeit des Repräsentativsystems sehr verständig herzuleiten. Aber einmal
dauert diese Ueberlegung nur für Augenblicke, er vergißt sie sehr bald in dem
Rausch des -Erfolgs; sodann beschönigt er auch die ärgsten Verirrungen durch
mitwirkende Umstände. Der Staatsstreich des Brumaire wird gerechtfertigt,
weil er von vielen Seiten gewünscht und provocirt wurde, und die grenzenlose
Eroberungspolitik, weil die fremden Mächte den Kaiser fortwährend reizten.
DaS Letztere heißt gradezu der Geschichte ins Gesicht schlagen. Ebenso be¬
denklich, als diese Rechtfertigung Napoleons, ist die namentlich durch Thiers
verbreitete Meinung, daß das Schreckenssystem Frankreich gerettet habe. Nicht
als ob der Gedanke durchweg unrichtig wäre, denn eine in sich selbst zerfallene
Regierung, wie die vor dem 1,0. August 1792, war unfähig, dem Stoß des
Auslandes zu widerstehen, und eine straffere Concentrirung der Gewalt war
nothwendig. Aber er dehnt den Gedanken zu weit aus, indem er auch die
unsinnigen Greuelthaten, die nicht blos von dem Wohlfahrtsausschuß, sondern
namentlich von dessen untergeordneten Agenten ausgeübt wurden, Greuel¬
thaten, die weit über die Bluthochzeit hinausgehen, als nothwendig darstellt.
Er macht es grade wie der Wohlfahrtsausschuß selbst, den Menschen wie Lebon,
Carrier u. s. w. ihres Wahnsinns wegen auch anekelten, der sie aber doch in
Schutz nahm, um nicht das Ansehn der Regierungsgewalt zu untergraben.
Kurz, er stellt überall das momentan Zweckmäßige über das Recht, nicht aus
Reflexion, sondern aus angebornem französischem Jnstinct, und dies führt uns
auf sein zweites Motiv, die Revolution zu vertheidigen.'

Thiers ist entschiedener Voltairianer; es kommt ihm nicht auf die Frei-


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[0218] Man kann als Franzose über die Demüthigung eines feindlichen Staates eine große Befriedigung empfinden, aber man kann diejenige Politik, die an dieser Demüthigung schuld war, nicht gut heißen. Den militärischen Gegnern Napoleons läßt Thiers eher Gerechtigkeit widerfahren, weil ihn hier die tech¬ nische Seite fesselt, aber die Patrioten, die geistig auf ihr Volk wirkten, in. derselben Weise, wie er auf die Franzosen zu wirken wünscht, finden bei ihm kein Verständniß. Von der Berechtigung anderer Nationen hat er keinen Begriff. Es kommt hinzu, daß sein Ideal von der Größe seines Volks sich den trivialsten Vorurtheilen anschließt. Er will den Ausländern imponiren, und aus diesem Gesichtspunkt rechtfertigt er den Wohlfahrtsausschuß, so wie den napoleonischen Despotismus. Daß diese scheinbare Machtentwicklung die wahre Lebenskraft des Volks untergrub, seinen Wohlstand, seine Bildung, seine Freiheit, das vergißt er über dem Siegeslärm der ruhmgekrönten Legio¬ nen. Freilich vertheidigt er nicht unbedingt die Eroberungspolitik des Direk¬ toriums, des Konsulats, deö Kaiserreichs. Er führt es einmal sogar sehr schön und treffend aus, daß es für die höchste Gewalt ein Unglück ist, keine Controle neben sich zu haben, und er weiß aus dieser Betrachtung die Zweck¬ mäßigkeit des Repräsentativsystems sehr verständig herzuleiten. Aber einmal dauert diese Ueberlegung nur für Augenblicke, er vergißt sie sehr bald in dem Rausch des -Erfolgs; sodann beschönigt er auch die ärgsten Verirrungen durch mitwirkende Umstände. Der Staatsstreich des Brumaire wird gerechtfertigt, weil er von vielen Seiten gewünscht und provocirt wurde, und die grenzenlose Eroberungspolitik, weil die fremden Mächte den Kaiser fortwährend reizten. DaS Letztere heißt gradezu der Geschichte ins Gesicht schlagen. Ebenso be¬ denklich, als diese Rechtfertigung Napoleons, ist die namentlich durch Thiers verbreitete Meinung, daß das Schreckenssystem Frankreich gerettet habe. Nicht als ob der Gedanke durchweg unrichtig wäre, denn eine in sich selbst zerfallene Regierung, wie die vor dem 1,0. August 1792, war unfähig, dem Stoß des Auslandes zu widerstehen, und eine straffere Concentrirung der Gewalt war nothwendig. Aber er dehnt den Gedanken zu weit aus, indem er auch die unsinnigen Greuelthaten, die nicht blos von dem Wohlfahrtsausschuß, sondern namentlich von dessen untergeordneten Agenten ausgeübt wurden, Greuel¬ thaten, die weit über die Bluthochzeit hinausgehen, als nothwendig darstellt. Er macht es grade wie der Wohlfahrtsausschuß selbst, den Menschen wie Lebon, Carrier u. s. w. ihres Wahnsinns wegen auch anekelten, der sie aber doch in Schutz nahm, um nicht das Ansehn der Regierungsgewalt zu untergraben. Kurz, er stellt überall das momentan Zweckmäßige über das Recht, nicht aus Reflexion, sondern aus angebornem französischem Jnstinct, und dies führt uns auf sein zweites Motiv, die Revolution zu vertheidigen.' Thiers ist entschiedener Voltairianer; es kommt ihm nicht auf die Frei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/218>, abgerufen am 22.12.2024.