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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Zeit vorstellte, die alte Kraft könne aufs neue wieder erwachen. In Deutsch¬
land war die Lethargie viel schneller eingetreten, hauptsächlich weil es keine
Mittel zur Concentration der Unzufriedenheit gab, und weil man kein be¬
stimmtes politisches Ideal für die Zukunft, kein verlorenes politisches Paradies
in der Vergangenheit fand. Aber auch in Frankreich betrachtete man die Re¬
volution mit großem Mißtrauen, und zwar aus folgenden Gründen.

Als die erste Revolution eintrat, war alle Welt davon überzeugt, sie
erstrebe nur dasselbe, was alle Welt erstrebe. Durch den Ausgang wurde
man in vieler Beziehung enttäuscht. Zunächst trat eine Zeit der Greuel ein,
vor denen später das französische Volk einen ebenso großen Schauder empfand,
als früher das Ausland; Greuel, deren Details man noch sehr lebhaft in
der Erinnerung gegenwärtig hatte. Zudem sorgte die Restauration dafür, daS
Andenken von Zeit zu Zeit wieder aufzufrischen, und in Frankreich wie in
Deutschland gehörte es zum guten Ton, in dem Voltairicmismus und der
ganzen Philosophie, auf welche die Revolution sich stützte, eine unsittliche
Gesinnung zu suchen. Sodann zeigte es sich, daß die Revolution die histo¬
rischen Kräfte nicht richtig berechnet hatte. Das correcteste Programm der
Revolution war die bekannte Flugschrift von sispes, in welcher der Bürger¬
stand behauptete und es durch Zahlen nachzuweisen suchte, daß er eigentlich
alles sei. Es ergab sich aber, daß Zahlen nicht immer beweisen. Es hatten
sich neben dem Bürgerstand noch andere Staatselemente geltend gemacht, die
Kirche, das Militär, der Adel, und man hatte erkannt, daß diese Kräfte nicht
blos von der Monarchie getragen wurden. Was aber das Schlimmste war,
die Revolution hatte nichts erreicht, die constitutionelle Monarchie war unter¬
gegangen, dasselbe Schicksal traf die Republik und den aufgeklärten Despo¬
tismus, die Eroberungen hatte man wieder verloren, und die neue constitu¬
tionelle Monarchie schien weiter nichts zu sein, als ein Deckmantel für die
Schimpflichste Pfaffen- und Junkerherrschaft.

Dieses Mißtrauen gegen die Revolution wurde durch Mignets Buch be¬
schwichtigt. Nicht daß der Verfasser es sich vorgesetzt hätte, aber bei der Eigen¬
thümlichkeit seines Verstandes, der schnell die springenden Punkte eines Ereig¬
nisses übersah und combinirte, ohne sich um Farbe und Detail viel zu kümmern,
gelang es ihm, zu treffen, was die Menge wünschte.

Was zunächst die Apologie des Terrorismus betrifft, so hätte jeder Schrift¬
steller, der sie im jakobinischen Sinn unternahm, eine allgemeine Entrüstung
hervorgerufen. Die Opposition war damals nicht sansculottisch, sondern sie
stützte sich auf den Bürgerstand, der jeder Paradorie feind war, und unter
allen Paradorien der Guillotine am meisten. Aber Mignet trat nicht als
blutiger Jakobiner auf, sondern als nüchterner Mensch, als Bürger im vollen
Sinn des Worts, ja man möchte sagen als Spießbürger, und seine Recht-


Zeit vorstellte, die alte Kraft könne aufs neue wieder erwachen. In Deutsch¬
land war die Lethargie viel schneller eingetreten, hauptsächlich weil es keine
Mittel zur Concentration der Unzufriedenheit gab, und weil man kein be¬
stimmtes politisches Ideal für die Zukunft, kein verlorenes politisches Paradies
in der Vergangenheit fand. Aber auch in Frankreich betrachtete man die Re¬
volution mit großem Mißtrauen, und zwar aus folgenden Gründen.

Als die erste Revolution eintrat, war alle Welt davon überzeugt, sie
erstrebe nur dasselbe, was alle Welt erstrebe. Durch den Ausgang wurde
man in vieler Beziehung enttäuscht. Zunächst trat eine Zeit der Greuel ein,
vor denen später das französische Volk einen ebenso großen Schauder empfand,
als früher das Ausland; Greuel, deren Details man noch sehr lebhaft in
der Erinnerung gegenwärtig hatte. Zudem sorgte die Restauration dafür, daS
Andenken von Zeit zu Zeit wieder aufzufrischen, und in Frankreich wie in
Deutschland gehörte es zum guten Ton, in dem Voltairicmismus und der
ganzen Philosophie, auf welche die Revolution sich stützte, eine unsittliche
Gesinnung zu suchen. Sodann zeigte es sich, daß die Revolution die histo¬
rischen Kräfte nicht richtig berechnet hatte. Das correcteste Programm der
Revolution war die bekannte Flugschrift von sispes, in welcher der Bürger¬
stand behauptete und es durch Zahlen nachzuweisen suchte, daß er eigentlich
alles sei. Es ergab sich aber, daß Zahlen nicht immer beweisen. Es hatten
sich neben dem Bürgerstand noch andere Staatselemente geltend gemacht, die
Kirche, das Militär, der Adel, und man hatte erkannt, daß diese Kräfte nicht
blos von der Monarchie getragen wurden. Was aber das Schlimmste war,
die Revolution hatte nichts erreicht, die constitutionelle Monarchie war unter¬
gegangen, dasselbe Schicksal traf die Republik und den aufgeklärten Despo¬
tismus, die Eroberungen hatte man wieder verloren, und die neue constitu¬
tionelle Monarchie schien weiter nichts zu sein, als ein Deckmantel für die
Schimpflichste Pfaffen- und Junkerherrschaft.

Dieses Mißtrauen gegen die Revolution wurde durch Mignets Buch be¬
schwichtigt. Nicht daß der Verfasser es sich vorgesetzt hätte, aber bei der Eigen¬
thümlichkeit seines Verstandes, der schnell die springenden Punkte eines Ereig¬
nisses übersah und combinirte, ohne sich um Farbe und Detail viel zu kümmern,
gelang es ihm, zu treffen, was die Menge wünschte.

Was zunächst die Apologie des Terrorismus betrifft, so hätte jeder Schrift¬
steller, der sie im jakobinischen Sinn unternahm, eine allgemeine Entrüstung
hervorgerufen. Die Opposition war damals nicht sansculottisch, sondern sie
stützte sich auf den Bürgerstand, der jeder Paradorie feind war, und unter
allen Paradorien der Guillotine am meisten. Aber Mignet trat nicht als
blutiger Jakobiner auf, sondern als nüchterner Mensch, als Bürger im vollen
Sinn des Worts, ja man möchte sagen als Spießbürger, und seine Recht-


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[0212] Zeit vorstellte, die alte Kraft könne aufs neue wieder erwachen. In Deutsch¬ land war die Lethargie viel schneller eingetreten, hauptsächlich weil es keine Mittel zur Concentration der Unzufriedenheit gab, und weil man kein be¬ stimmtes politisches Ideal für die Zukunft, kein verlorenes politisches Paradies in der Vergangenheit fand. Aber auch in Frankreich betrachtete man die Re¬ volution mit großem Mißtrauen, und zwar aus folgenden Gründen. Als die erste Revolution eintrat, war alle Welt davon überzeugt, sie erstrebe nur dasselbe, was alle Welt erstrebe. Durch den Ausgang wurde man in vieler Beziehung enttäuscht. Zunächst trat eine Zeit der Greuel ein, vor denen später das französische Volk einen ebenso großen Schauder empfand, als früher das Ausland; Greuel, deren Details man noch sehr lebhaft in der Erinnerung gegenwärtig hatte. Zudem sorgte die Restauration dafür, daS Andenken von Zeit zu Zeit wieder aufzufrischen, und in Frankreich wie in Deutschland gehörte es zum guten Ton, in dem Voltairicmismus und der ganzen Philosophie, auf welche die Revolution sich stützte, eine unsittliche Gesinnung zu suchen. Sodann zeigte es sich, daß die Revolution die histo¬ rischen Kräfte nicht richtig berechnet hatte. Das correcteste Programm der Revolution war die bekannte Flugschrift von sispes, in welcher der Bürger¬ stand behauptete und es durch Zahlen nachzuweisen suchte, daß er eigentlich alles sei. Es ergab sich aber, daß Zahlen nicht immer beweisen. Es hatten sich neben dem Bürgerstand noch andere Staatselemente geltend gemacht, die Kirche, das Militär, der Adel, und man hatte erkannt, daß diese Kräfte nicht blos von der Monarchie getragen wurden. Was aber das Schlimmste war, die Revolution hatte nichts erreicht, die constitutionelle Monarchie war unter¬ gegangen, dasselbe Schicksal traf die Republik und den aufgeklärten Despo¬ tismus, die Eroberungen hatte man wieder verloren, und die neue constitu¬ tionelle Monarchie schien weiter nichts zu sein, als ein Deckmantel für die Schimpflichste Pfaffen- und Junkerherrschaft. Dieses Mißtrauen gegen die Revolution wurde durch Mignets Buch be¬ schwichtigt. Nicht daß der Verfasser es sich vorgesetzt hätte, aber bei der Eigen¬ thümlichkeit seines Verstandes, der schnell die springenden Punkte eines Ereig¬ nisses übersah und combinirte, ohne sich um Farbe und Detail viel zu kümmern, gelang es ihm, zu treffen, was die Menge wünschte. Was zunächst die Apologie des Terrorismus betrifft, so hätte jeder Schrift¬ steller, der sie im jakobinischen Sinn unternahm, eine allgemeine Entrüstung hervorgerufen. Die Opposition war damals nicht sansculottisch, sondern sie stützte sich auf den Bürgerstand, der jeder Paradorie feind war, und unter allen Paradorien der Guillotine am meisten. Aber Mignet trat nicht als blutiger Jakobiner auf, sondern als nüchterner Mensch, als Bürger im vollen Sinn des Worts, ja man möchte sagen als Spießbürger, und seine Recht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/212>, abgerufen am 23.07.2024.