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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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oder militärischer Ordnung so zusammen, daß die innern Beziehungen klar
hervortreten. Er wird oft vorschnell sein und den Abschluß machen, ehe er
die nöthigen Vorarbeiten beendet hat, aber er wird wenigstens stets imstande
sein, das, was er weiß oder was er glaubt, seinen Lesern deutlich zu machen.
Die schlechten Schriftsteller, die sich neuerdings in einer halbbelletristischen
Form über ernsthafte Gegenstände auslassen, treten aus dem eigentlich fran¬
zösischen Geist heraus. Es ist bei ihnen nicht Natur, sondern Koketterie.

Nus Deutschen fehlt in unserer Erziehung das Eine wie das Andere. Die
Franzosen und Engländer, welche die richtige Schule durchgemacht haben,
dürfen sich ruhig dem Genius ihrer Sprache überlassen, sie haben sich nur um
den Inhalt zu kümmern, die Form findet sich von selbst. Die Neuerungen,
die man seit dem Ende der zwanziger Jahre in beiden Sprachen eingeführt
hat, haben dieselben im Wesentlichen nur bereichert, ihren Charakter aber nicht
Zerstört. Wir sind dagegen seit einem Menschenalter in der Sicherheit der
Sprache keineswegs vorwärts gekommen. Um Lessing und Goethe gar nicht
zu erwähnen, wir dürfen nur einen beliebigen Aussatz von Schlegel in die
Hand nehmen, um uns zu überzeugen, wie schwer es uns wird, jetzt auch
nur so klar zu schreiben, wie dieser gewiß nicht übertrieben klare Kopf. --
Gewiß verdienen Männer wie Grimm, Niebuhr, Hegel, Schelling :c. alle
Verehrung; aber denken wir daran, daß jeder von ihnen einen Kreis zahlreicher
Verehrer und Nachahmer um sich gesammelt hat, und nehmen wir dann noch
etwa Jean Paul und Tieck dazu, die gleichfalls stilistisch einen sehr großen
Einfluß ausgeübt haben, so werden wir uns nicht wundern, wenn wir sehen,
daß jeder einzelne Schriftsteller sich erst mit Anstrengung eine eigne deutsche
Sprache zubereiten muß. DaS grimmsche Wörterbuch ist ein staunenswürdiges
und für jeden Freund beschaulicher Studien höchst erfreuliches Unternehmen ;
aber wollte Gott, wir hätten daneben auch ein violionnaire as l'troaäiZliiie.
Nicht selten ist es bei uns nothwendig, daß die Schriftsteller in den Anhang
ein Privatlerikon setzen, ja zuweilen könnte auch eine Privatgrammatik nicht
schaden. Es ist leichter, auf den Uebelstand hinzudeuten, als ihn zu beseitigen.
So viel ist gewiß, daß bei uns jeder Schriftsteller in den Jahren seiner schö¬
pferischen Kraft die linguistischen Studien nachholen muß, die auf der Schule
und Universität zu keinem Abschluß gekommen sind. Es kommt noch ein zweiter
Umstand dazu. Es gab eine Zeit in der deutschen Literatur, und sie ist noch
nicht ganz vorüber, wo die größten Gelehrten es nicht nur mit ihrer Gelehr¬
samkeit vereinbar, sondern als charakteristisch für dieselbe hielten, in der Form
unbeholfen zu sein, wo sie regelmäßig bei einem ungewöhnlich hervortretenden
stilistischen Talent den Verdacht des Dilettantismus schöpften. Wenn die
französischen Gelehrten durch ihre Artikel in dem ^orrmal nie Lavsnts oder
auch in der Revue des deur mondes, wenn die britischen Gelehrten durch


oder militärischer Ordnung so zusammen, daß die innern Beziehungen klar
hervortreten. Er wird oft vorschnell sein und den Abschluß machen, ehe er
die nöthigen Vorarbeiten beendet hat, aber er wird wenigstens stets imstande
sein, das, was er weiß oder was er glaubt, seinen Lesern deutlich zu machen.
Die schlechten Schriftsteller, die sich neuerdings in einer halbbelletristischen
Form über ernsthafte Gegenstände auslassen, treten aus dem eigentlich fran¬
zösischen Geist heraus. Es ist bei ihnen nicht Natur, sondern Koketterie.

Nus Deutschen fehlt in unserer Erziehung das Eine wie das Andere. Die
Franzosen und Engländer, welche die richtige Schule durchgemacht haben,
dürfen sich ruhig dem Genius ihrer Sprache überlassen, sie haben sich nur um
den Inhalt zu kümmern, die Form findet sich von selbst. Die Neuerungen,
die man seit dem Ende der zwanziger Jahre in beiden Sprachen eingeführt
hat, haben dieselben im Wesentlichen nur bereichert, ihren Charakter aber nicht
Zerstört. Wir sind dagegen seit einem Menschenalter in der Sicherheit der
Sprache keineswegs vorwärts gekommen. Um Lessing und Goethe gar nicht
zu erwähnen, wir dürfen nur einen beliebigen Aussatz von Schlegel in die
Hand nehmen, um uns zu überzeugen, wie schwer es uns wird, jetzt auch
nur so klar zu schreiben, wie dieser gewiß nicht übertrieben klare Kopf. —
Gewiß verdienen Männer wie Grimm, Niebuhr, Hegel, Schelling :c. alle
Verehrung; aber denken wir daran, daß jeder von ihnen einen Kreis zahlreicher
Verehrer und Nachahmer um sich gesammelt hat, und nehmen wir dann noch
etwa Jean Paul und Tieck dazu, die gleichfalls stilistisch einen sehr großen
Einfluß ausgeübt haben, so werden wir uns nicht wundern, wenn wir sehen,
daß jeder einzelne Schriftsteller sich erst mit Anstrengung eine eigne deutsche
Sprache zubereiten muß. DaS grimmsche Wörterbuch ist ein staunenswürdiges
und für jeden Freund beschaulicher Studien höchst erfreuliches Unternehmen ;
aber wollte Gott, wir hätten daneben auch ein violionnaire as l'troaäiZliiie.
Nicht selten ist es bei uns nothwendig, daß die Schriftsteller in den Anhang
ein Privatlerikon setzen, ja zuweilen könnte auch eine Privatgrammatik nicht
schaden. Es ist leichter, auf den Uebelstand hinzudeuten, als ihn zu beseitigen.
So viel ist gewiß, daß bei uns jeder Schriftsteller in den Jahren seiner schö¬
pferischen Kraft die linguistischen Studien nachholen muß, die auf der Schule
und Universität zu keinem Abschluß gekommen sind. Es kommt noch ein zweiter
Umstand dazu. Es gab eine Zeit in der deutschen Literatur, und sie ist noch
nicht ganz vorüber, wo die größten Gelehrten es nicht nur mit ihrer Gelehr¬
samkeit vereinbar, sondern als charakteristisch für dieselbe hielten, in der Form
unbeholfen zu sein, wo sie regelmäßig bei einem ungewöhnlich hervortretenden
stilistischen Talent den Verdacht des Dilettantismus schöpften. Wenn die
französischen Gelehrten durch ihre Artikel in dem ^orrmal nie Lavsnts oder
auch in der Revue des deur mondes, wenn die britischen Gelehrten durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/184>, abgerufen am 25.08.2024.