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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Geschichtschreibern der Fall ist. Aber Eins wird man vom Geschichtschreiber
mit Recht verlangen: er muß gut zu erzählen verstehen.

Und hier ist nicht zu leugnen, daß wir Deutsche sowol die Engländer als
die Franzosen zu beneiden haben. Wenn wir mit Freude darauf hindeuten
konnten, daß die neueste Zeit in der Geschichtschreibung einen außerordentlichenFort-
schritt repräsentirt, so merkt man doch auch bei den besten Werken die Anstrengung
heraus, sich aus der Gewohnheit der philosophischen Betrachtung und der Reflexion
zu befreien und einfach darzustellen. Wir haben vor einigen Wochen den fran¬
zösischen Geschichtschreiber Thierry analystrt, der freilich unter den Franzosen
der glänzendste ist, und dem in der Kunst deS Stils nur noch Macaulay zur
Seite steht. Es ist nun eine charakteristische Erscheinung, daß sich grade unter
unsern strengen Gelehrten gegen diese beiden Männer ein großes Mißfallen
regt. Man sucht mit Behagen die einzelnen Schnitzer hervor, die sie gemacht
haben, und die sie in der That hätten vermeiden sollen, aber es steht dann
fast so aus, als ob ihre ganzen Werke aus solchen Schnitzern beständen. Ja
es gibt gewichtige Stimmen in Deutschland, die sich über Thierry und Ma-
caulay so aussprechen, als ob man es mit leichtsinnigen Schöngeistern der
gewöhnlichen Art zu thun hätte. Das Volk hat anders geurtheilt, und mit
Recht. Die einzelnen Fehler, die sie gemacht haben, sind leicht zu verbessern;
man kann sie allenfalls in der Form eines Druckfehlerverzeichnisses in den
Nachtrag bringen; die hinreißende Gewalt der Beredtsamkeit, die sie auszeich¬
net, wird dadurch nicht verkümmert. Allerdings liegt in der Neigung, schon
und interessant darzustellen, ein Bedenken, denn auch das kann man hand¬
werksmäßig betreiben, wie uns das Beispiel von Capefigue, Lamartine und
vielen andern leichtsinnigen französischen Geschichtschreibern zeigt; aber im
Grund ist es doch nur ein Mißverständniß, wenn man in diesem Fall von
einer schönen Darstellung redet. Schön ist die historische Darstellung nur
dann, wenn sie dem Gegenstand vollständig entspricht.

sowol die Engländer wie die Franzosen sind durch ihre Sprache sehr
begünstigt; die Engländer durch ihre Fertigkeit in der humoristischen Dar.
Stellung, die schon im Glossar ihnen einen unendlich reichen Schatz von Farbe
und Detail gibt. Wenn sie eine Situation im Einzelnen ausmalen wollen,
steht ihnen eine überreiche Fülle sinnlicher Anschauungen zu Gebote, und in
der Gruppirung derselben haben sie eine sehr sichere Technik erworben. Die
Franzosen dagegen sind durch die vielgeschmähte Akademie und den vielgeschmäh-
ten Boileau daran gewöhnt, schnell und augenblicklich eine zweckmäßige Wahl
zu treffen. Ein Franzose würde es nicht wagen, seinem Auditorium so viel
Details vorzuführen, als Macaulay, denn dazu würde es demselben an Ge¬
duld fehlen; aber mit sicherm Blick entdeckt er bei der ersten Bekanntschaft mit
seinem Gegenstand die charakteristischen Züge und stellt sie in strenger logischer


Geschichtschreibern der Fall ist. Aber Eins wird man vom Geschichtschreiber
mit Recht verlangen: er muß gut zu erzählen verstehen.

Und hier ist nicht zu leugnen, daß wir Deutsche sowol die Engländer als
die Franzosen zu beneiden haben. Wenn wir mit Freude darauf hindeuten
konnten, daß die neueste Zeit in der Geschichtschreibung einen außerordentlichenFort-
schritt repräsentirt, so merkt man doch auch bei den besten Werken die Anstrengung
heraus, sich aus der Gewohnheit der philosophischen Betrachtung und der Reflexion
zu befreien und einfach darzustellen. Wir haben vor einigen Wochen den fran¬
zösischen Geschichtschreiber Thierry analystrt, der freilich unter den Franzosen
der glänzendste ist, und dem in der Kunst deS Stils nur noch Macaulay zur
Seite steht. Es ist nun eine charakteristische Erscheinung, daß sich grade unter
unsern strengen Gelehrten gegen diese beiden Männer ein großes Mißfallen
regt. Man sucht mit Behagen die einzelnen Schnitzer hervor, die sie gemacht
haben, und die sie in der That hätten vermeiden sollen, aber es steht dann
fast so aus, als ob ihre ganzen Werke aus solchen Schnitzern beständen. Ja
es gibt gewichtige Stimmen in Deutschland, die sich über Thierry und Ma-
caulay so aussprechen, als ob man es mit leichtsinnigen Schöngeistern der
gewöhnlichen Art zu thun hätte. Das Volk hat anders geurtheilt, und mit
Recht. Die einzelnen Fehler, die sie gemacht haben, sind leicht zu verbessern;
man kann sie allenfalls in der Form eines Druckfehlerverzeichnisses in den
Nachtrag bringen; die hinreißende Gewalt der Beredtsamkeit, die sie auszeich¬
net, wird dadurch nicht verkümmert. Allerdings liegt in der Neigung, schon
und interessant darzustellen, ein Bedenken, denn auch das kann man hand¬
werksmäßig betreiben, wie uns das Beispiel von Capefigue, Lamartine und
vielen andern leichtsinnigen französischen Geschichtschreibern zeigt; aber im
Grund ist es doch nur ein Mißverständniß, wenn man in diesem Fall von
einer schönen Darstellung redet. Schön ist die historische Darstellung nur
dann, wenn sie dem Gegenstand vollständig entspricht.

sowol die Engländer wie die Franzosen sind durch ihre Sprache sehr
begünstigt; die Engländer durch ihre Fertigkeit in der humoristischen Dar.
Stellung, die schon im Glossar ihnen einen unendlich reichen Schatz von Farbe
und Detail gibt. Wenn sie eine Situation im Einzelnen ausmalen wollen,
steht ihnen eine überreiche Fülle sinnlicher Anschauungen zu Gebote, und in
der Gruppirung derselben haben sie eine sehr sichere Technik erworben. Die
Franzosen dagegen sind durch die vielgeschmähte Akademie und den vielgeschmäh-
ten Boileau daran gewöhnt, schnell und augenblicklich eine zweckmäßige Wahl
zu treffen. Ein Franzose würde es nicht wagen, seinem Auditorium so viel
Details vorzuführen, als Macaulay, denn dazu würde es demselben an Ge¬
duld fehlen; aber mit sicherm Blick entdeckt er bei der ersten Bekanntschaft mit
seinem Gegenstand die charakteristischen Züge und stellt sie in strenger logischer


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[0183] Geschichtschreibern der Fall ist. Aber Eins wird man vom Geschichtschreiber mit Recht verlangen: er muß gut zu erzählen verstehen. Und hier ist nicht zu leugnen, daß wir Deutsche sowol die Engländer als die Franzosen zu beneiden haben. Wenn wir mit Freude darauf hindeuten konnten, daß die neueste Zeit in der Geschichtschreibung einen außerordentlichenFort- schritt repräsentirt, so merkt man doch auch bei den besten Werken die Anstrengung heraus, sich aus der Gewohnheit der philosophischen Betrachtung und der Reflexion zu befreien und einfach darzustellen. Wir haben vor einigen Wochen den fran¬ zösischen Geschichtschreiber Thierry analystrt, der freilich unter den Franzosen der glänzendste ist, und dem in der Kunst deS Stils nur noch Macaulay zur Seite steht. Es ist nun eine charakteristische Erscheinung, daß sich grade unter unsern strengen Gelehrten gegen diese beiden Männer ein großes Mißfallen regt. Man sucht mit Behagen die einzelnen Schnitzer hervor, die sie gemacht haben, und die sie in der That hätten vermeiden sollen, aber es steht dann fast so aus, als ob ihre ganzen Werke aus solchen Schnitzern beständen. Ja es gibt gewichtige Stimmen in Deutschland, die sich über Thierry und Ma- caulay so aussprechen, als ob man es mit leichtsinnigen Schöngeistern der gewöhnlichen Art zu thun hätte. Das Volk hat anders geurtheilt, und mit Recht. Die einzelnen Fehler, die sie gemacht haben, sind leicht zu verbessern; man kann sie allenfalls in der Form eines Druckfehlerverzeichnisses in den Nachtrag bringen; die hinreißende Gewalt der Beredtsamkeit, die sie auszeich¬ net, wird dadurch nicht verkümmert. Allerdings liegt in der Neigung, schon und interessant darzustellen, ein Bedenken, denn auch das kann man hand¬ werksmäßig betreiben, wie uns das Beispiel von Capefigue, Lamartine und vielen andern leichtsinnigen französischen Geschichtschreibern zeigt; aber im Grund ist es doch nur ein Mißverständniß, wenn man in diesem Fall von einer schönen Darstellung redet. Schön ist die historische Darstellung nur dann, wenn sie dem Gegenstand vollständig entspricht. sowol die Engländer wie die Franzosen sind durch ihre Sprache sehr begünstigt; die Engländer durch ihre Fertigkeit in der humoristischen Dar. Stellung, die schon im Glossar ihnen einen unendlich reichen Schatz von Farbe und Detail gibt. Wenn sie eine Situation im Einzelnen ausmalen wollen, steht ihnen eine überreiche Fülle sinnlicher Anschauungen zu Gebote, und in der Gruppirung derselben haben sie eine sehr sichere Technik erworben. Die Franzosen dagegen sind durch die vielgeschmähte Akademie und den vielgeschmäh- ten Boileau daran gewöhnt, schnell und augenblicklich eine zweckmäßige Wahl zu treffen. Ein Franzose würde es nicht wagen, seinem Auditorium so viel Details vorzuführen, als Macaulay, denn dazu würde es demselben an Ge¬ duld fehlen; aber mit sicherm Blick entdeckt er bei der ersten Bekanntschaft mit seinem Gegenstand die charakteristischen Züge und stellt sie in strenger logischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/183>, abgerufen am 22.12.2024.