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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Verbrennung und Plünderung Trojas in wenigen Stunden anzufangen und
zu beenden! Nach seiner Darstellung soll sogar überdies noch in dieser kurzen
Zeit der ganze Reichthum der Stadt in Centralmagazine zusammengebracht
worden sein. Das Haus des Anchises muß sehr nahe bei der Stadt gewesen
sein, denn während dieser wenigen Stunden und trotz des Gefechts geht Ae-
neas mehrmals dahin. Scipio brauchte siebzehn Tage, um Karthago zu ver¬
brennen, obwol es von seinen Bewohnern verlassen war; der Brand von Moskau
dauerte elf Tage, obwol es größtentheils aus Holz gebaut war; und bei einer
Stadt von solcher, Größe bedarf die erobernde Armee mehre Tage zur Besitz¬
nahme. Nun war Troja eine große Stadt; denn die Griechen, die 100,000
Mann hatten, machten nie den Versuch, .sie zu blokiren. Als Aeneas in der¬
selben Nacht nach Troja zurückkehrt, findet er Ulysses die durch" die Plünderung
aufgehäuften Schätze bewachend. Dazu allein waren vierzehn Tage erforder¬
lich , und mitten in dem Tumult einer mit Sturm genommenen Stadt unter¬
hält man sich nicht damit, Schätze in Centralmagazine zusammenzuschleppen.

Bei Tagesanbruch, sagt der Dichter, trifft Aeneas wieder mit seinen
Gefährten zusammen. Folglich ist zwischen ein und vier Uhr Morgens d. h. in
drei Stunden Folgendes vorgegangen. Aeneas ist nach Troja gegangen, hat
alle Kämpfe mitgemacht, die er beschreibt, hat Priamus Palast vertheidigt, ist
Zurückgekehrt, um Kreusa in der Stadt zu sehn, und hat sie vollständig erobert
gefunden, so daß nirgend mehr Widerstand geleistet wird, auf allen Punkten
vom Feinde besetzt, völlig durch Feuer zerstört, und die für die Beute bestimmten
Magazine bereits geschlossen. So sollte kein epischer Dichter verfahren, und
so ist der Gang der Ereignisse nicht in der Jliade. Agamenmons Tagebuch
würde nicht genauer sein in Bezug aus Entfernungen und Zeiten und die
Wahrscheinlichkeit militärischer Operationen als dieses epische Meisterstück ist."

Bei dieser Vergleichung von Homer und Virgil, die so sehr zu Gunsten
des erstem ausfällt, ist das freilich wahr, daß die Schilderungen der Kämpfe
>'n der Jliade überall Autopsie solcher Scenen voraussetzen, was in der Aeneide
nicht der Fall ist; und daß sie folglich auch abgesehn von der unendlich größern
Begabung der homerischen Dichter eine ganz andere Realität haben, als die
Phantasiegemälde Virgils. Will man jedoch die Jliade wie ein Tagebuch
des commandirenden Feldherrn beurtheilen, so wird man auf nicht viel weniger
Unmöglichkeiten und Absurditäten stoßen, als in der Aeneide, und wie wenig
begründet Napoleons Lob ist, zeigt jede in Wolfs oder Landmanns Sinne ge¬
schriebene Kritik der Jliade. Bekanntlich hat Lachmann die Widersprüche
grade in Bezug auf Zeit und Raum und die militärischen und andere Un-
wahrscheinlichkeiten so groß gefunden, daß er daraus die Entstehung des Ge¬
dichts aus vielen ursprünglich nicht zusammenhängenden Balladen oder Liedern
gefolgert hat. Einige von diesen Unmöglichkeiten sind in der That so in die


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Verbrennung und Plünderung Trojas in wenigen Stunden anzufangen und
zu beenden! Nach seiner Darstellung soll sogar überdies noch in dieser kurzen
Zeit der ganze Reichthum der Stadt in Centralmagazine zusammengebracht
worden sein. Das Haus des Anchises muß sehr nahe bei der Stadt gewesen
sein, denn während dieser wenigen Stunden und trotz des Gefechts geht Ae-
neas mehrmals dahin. Scipio brauchte siebzehn Tage, um Karthago zu ver¬
brennen, obwol es von seinen Bewohnern verlassen war; der Brand von Moskau
dauerte elf Tage, obwol es größtentheils aus Holz gebaut war; und bei einer
Stadt von solcher, Größe bedarf die erobernde Armee mehre Tage zur Besitz¬
nahme. Nun war Troja eine große Stadt; denn die Griechen, die 100,000
Mann hatten, machten nie den Versuch, .sie zu blokiren. Als Aeneas in der¬
selben Nacht nach Troja zurückkehrt, findet er Ulysses die durch" die Plünderung
aufgehäuften Schätze bewachend. Dazu allein waren vierzehn Tage erforder¬
lich , und mitten in dem Tumult einer mit Sturm genommenen Stadt unter¬
hält man sich nicht damit, Schätze in Centralmagazine zusammenzuschleppen.

Bei Tagesanbruch, sagt der Dichter, trifft Aeneas wieder mit seinen
Gefährten zusammen. Folglich ist zwischen ein und vier Uhr Morgens d. h. in
drei Stunden Folgendes vorgegangen. Aeneas ist nach Troja gegangen, hat
alle Kämpfe mitgemacht, die er beschreibt, hat Priamus Palast vertheidigt, ist
Zurückgekehrt, um Kreusa in der Stadt zu sehn, und hat sie vollständig erobert
gefunden, so daß nirgend mehr Widerstand geleistet wird, auf allen Punkten
vom Feinde besetzt, völlig durch Feuer zerstört, und die für die Beute bestimmten
Magazine bereits geschlossen. So sollte kein epischer Dichter verfahren, und
so ist der Gang der Ereignisse nicht in der Jliade. Agamenmons Tagebuch
würde nicht genauer sein in Bezug aus Entfernungen und Zeiten und die
Wahrscheinlichkeit militärischer Operationen als dieses epische Meisterstück ist."

Bei dieser Vergleichung von Homer und Virgil, die so sehr zu Gunsten
des erstem ausfällt, ist das freilich wahr, daß die Schilderungen der Kämpfe
>'n der Jliade überall Autopsie solcher Scenen voraussetzen, was in der Aeneide
nicht der Fall ist; und daß sie folglich auch abgesehn von der unendlich größern
Begabung der homerischen Dichter eine ganz andere Realität haben, als die
Phantasiegemälde Virgils. Will man jedoch die Jliade wie ein Tagebuch
des commandirenden Feldherrn beurtheilen, so wird man auf nicht viel weniger
Unmöglichkeiten und Absurditäten stoßen, als in der Aeneide, und wie wenig
begründet Napoleons Lob ist, zeigt jede in Wolfs oder Landmanns Sinne ge¬
schriebene Kritik der Jliade. Bekanntlich hat Lachmann die Widersprüche
grade in Bezug auf Zeit und Raum und die militärischen und andere Un-
wahrscheinlichkeiten so groß gefunden, daß er daraus die Entstehung des Ge¬
dichts aus vielen ursprünglich nicht zusammenhängenden Balladen oder Liedern
gefolgert hat. Einige von diesen Unmöglichkeiten sind in der That so in die


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[0179] Verbrennung und Plünderung Trojas in wenigen Stunden anzufangen und zu beenden! Nach seiner Darstellung soll sogar überdies noch in dieser kurzen Zeit der ganze Reichthum der Stadt in Centralmagazine zusammengebracht worden sein. Das Haus des Anchises muß sehr nahe bei der Stadt gewesen sein, denn während dieser wenigen Stunden und trotz des Gefechts geht Ae- neas mehrmals dahin. Scipio brauchte siebzehn Tage, um Karthago zu ver¬ brennen, obwol es von seinen Bewohnern verlassen war; der Brand von Moskau dauerte elf Tage, obwol es größtentheils aus Holz gebaut war; und bei einer Stadt von solcher, Größe bedarf die erobernde Armee mehre Tage zur Besitz¬ nahme. Nun war Troja eine große Stadt; denn die Griechen, die 100,000 Mann hatten, machten nie den Versuch, .sie zu blokiren. Als Aeneas in der¬ selben Nacht nach Troja zurückkehrt, findet er Ulysses die durch" die Plünderung aufgehäuften Schätze bewachend. Dazu allein waren vierzehn Tage erforder¬ lich , und mitten in dem Tumult einer mit Sturm genommenen Stadt unter¬ hält man sich nicht damit, Schätze in Centralmagazine zusammenzuschleppen. Bei Tagesanbruch, sagt der Dichter, trifft Aeneas wieder mit seinen Gefährten zusammen. Folglich ist zwischen ein und vier Uhr Morgens d. h. in drei Stunden Folgendes vorgegangen. Aeneas ist nach Troja gegangen, hat alle Kämpfe mitgemacht, die er beschreibt, hat Priamus Palast vertheidigt, ist Zurückgekehrt, um Kreusa in der Stadt zu sehn, und hat sie vollständig erobert gefunden, so daß nirgend mehr Widerstand geleistet wird, auf allen Punkten vom Feinde besetzt, völlig durch Feuer zerstört, und die für die Beute bestimmten Magazine bereits geschlossen. So sollte kein epischer Dichter verfahren, und so ist der Gang der Ereignisse nicht in der Jliade. Agamenmons Tagebuch würde nicht genauer sein in Bezug aus Entfernungen und Zeiten und die Wahrscheinlichkeit militärischer Operationen als dieses epische Meisterstück ist." Bei dieser Vergleichung von Homer und Virgil, die so sehr zu Gunsten des erstem ausfällt, ist das freilich wahr, daß die Schilderungen der Kämpfe >'n der Jliade überall Autopsie solcher Scenen voraussetzen, was in der Aeneide nicht der Fall ist; und daß sie folglich auch abgesehn von der unendlich größern Begabung der homerischen Dichter eine ganz andere Realität haben, als die Phantasiegemälde Virgils. Will man jedoch die Jliade wie ein Tagebuch des commandirenden Feldherrn beurtheilen, so wird man auf nicht viel weniger Unmöglichkeiten und Absurditäten stoßen, als in der Aeneide, und wie wenig begründet Napoleons Lob ist, zeigt jede in Wolfs oder Landmanns Sinne ge¬ schriebene Kritik der Jliade. Bekanntlich hat Lachmann die Widersprüche grade in Bezug auf Zeit und Raum und die militärischen und andere Un- wahrscheinlichkeiten so groß gefunden, daß er daraus die Entstehung des Ge¬ dichts aus vielen ursprünglich nicht zusammenhängenden Balladen oder Liedern gefolgert hat. Einige von diesen Unmöglichkeiten sind in der That so in die 22"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/179>, abgerufen am 23.07.2024.