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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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höre Milton selbst. Nachdem er kurz die Sagen von SamotheS, dem Sohne
Japhcits, Albion, dem Sohne Neptuns u. s. w. berührt hat, fährt er fort:
"Der Brutus aber und sein Geschlecht mit allen seinen königlichen Nachkom¬
men bis zum Auftreten Julius Cäsars können wir nicht so leicht beseitigen,
nicht so leicht die lange fortgeführten Stammbäume, Gesetze und Thaten, die
nicht schlechthin erborgt zu sein scheinen und die keinen geringen Eindruck auf
den allgemeinen Glauben gemacht haben; sie werden von vielen vertheidigt,
nur von wenigen gänzlich geläugnet. Denn obgleich Brutus und der ganze
Anspruch auf die Abstammung von Troja ausgegeben ist, da man sah, daß
diejenigen, die zuerst für uns einen berühmten Ahnherrn erfanden, anfangs
mit dem Consul Brutus zufrieden waren, bis eine bessere Erfindung, wiewol
nicht geneigt den Namen fahren zu lassen, sie lehrte, ihn in ein fabelhafteres
Zeitalter zu entfernen, und daß sie hierdurch auf die Sagen von Troja stoßend
da den Stammbaum anfügten, aus dem Streben die Briten aus derselben
Quelle herzuleiten wie die Römer: so kann man doch nicht ohne zu große
Ungläubigkeit annehmen, daß diese alten eingebornen Könige nie wirkliche
Personen gewesen seien, oder daß sie in ihrem Leben nicht wenigstens einen
Theil von dem, was überliefert ist, sollten gethan haben. Aus diesen und
den oben erwähnten Gründen habe ich das, was bei so vielen Billigung er¬
langt hat, nicht übergehen mögen. Ob es gewiß oder ungewiß ist, das möge
von der Glaubwürdigkeit derer abhängen, denen ich folgen muß; so weit als
es sich von dem Unmöglichen oder Abgeschmackten sern hält, und von alten
Schriftstellern aus ältern Büchern belegt wird, weigere ich mich nicht , es als
den gehörigen und geeigneten Gegenstand der Geschichte anzuerkennen."

Dies Räsonnement, welches von dem Grundsatz ausgeht, daß, wo viel
Dichtung ist, auch einige Wahrheit sein müsse, wird heute noch immer wieder¬
holt, zwar nicht mehr in Bezug auf die Nachkommen des Königs Brutus,
aber doch mit Bezug auf die Urgeschichte Roms und das Sagenzeitalter Grie¬
chenlands. So oft eine Ueberlieferung, die lange Zeit entweder als reine
Geschichte oder als Conglomerat von Geschichte und Sage gegolten hat, völlig
umgeworfen wird, erhebt sich ein allgemeines Wehklagen aller guten Seelen
über diesen gemüthlosen Skepticismus, dem nichts heilig ist, und diese sophistische
Hyperkritik, die das von so vielen trefflichen Autoren Bezeugte zu verdächtigen
wagt. Ist der Angriff gegen die Ueberlieferung so mächtig und unwiderstehlich,
wie ihn Niebuhr gegen die Urgeschichte Roms machte, so kann man freilich
nicht gradezu widersprechen, wenn man nicht alles Urtheils baar ist (wie z. B.
in diesem Punkt die meisten italienischen Gelehrten); aber schwache Gemüther
können sich ebensowenig entschließen, der süßen Gewohnheit des Glaubens
völlig zu entsagen, als gegen die bündigen Beweise der negirenden Kritik sich
ganz zu verstocken. Sie suchen wenigstens einen Theil zu retten und behaup-


höre Milton selbst. Nachdem er kurz die Sagen von SamotheS, dem Sohne
Japhcits, Albion, dem Sohne Neptuns u. s. w. berührt hat, fährt er fort:
„Der Brutus aber und sein Geschlecht mit allen seinen königlichen Nachkom¬
men bis zum Auftreten Julius Cäsars können wir nicht so leicht beseitigen,
nicht so leicht die lange fortgeführten Stammbäume, Gesetze und Thaten, die
nicht schlechthin erborgt zu sein scheinen und die keinen geringen Eindruck auf
den allgemeinen Glauben gemacht haben; sie werden von vielen vertheidigt,
nur von wenigen gänzlich geläugnet. Denn obgleich Brutus und der ganze
Anspruch auf die Abstammung von Troja ausgegeben ist, da man sah, daß
diejenigen, die zuerst für uns einen berühmten Ahnherrn erfanden, anfangs
mit dem Consul Brutus zufrieden waren, bis eine bessere Erfindung, wiewol
nicht geneigt den Namen fahren zu lassen, sie lehrte, ihn in ein fabelhafteres
Zeitalter zu entfernen, und daß sie hierdurch auf die Sagen von Troja stoßend
da den Stammbaum anfügten, aus dem Streben die Briten aus derselben
Quelle herzuleiten wie die Römer: so kann man doch nicht ohne zu große
Ungläubigkeit annehmen, daß diese alten eingebornen Könige nie wirkliche
Personen gewesen seien, oder daß sie in ihrem Leben nicht wenigstens einen
Theil von dem, was überliefert ist, sollten gethan haben. Aus diesen und
den oben erwähnten Gründen habe ich das, was bei so vielen Billigung er¬
langt hat, nicht übergehen mögen. Ob es gewiß oder ungewiß ist, das möge
von der Glaubwürdigkeit derer abhängen, denen ich folgen muß; so weit als
es sich von dem Unmöglichen oder Abgeschmackten sern hält, und von alten
Schriftstellern aus ältern Büchern belegt wird, weigere ich mich nicht , es als
den gehörigen und geeigneten Gegenstand der Geschichte anzuerkennen."

Dies Räsonnement, welches von dem Grundsatz ausgeht, daß, wo viel
Dichtung ist, auch einige Wahrheit sein müsse, wird heute noch immer wieder¬
holt, zwar nicht mehr in Bezug auf die Nachkommen des Königs Brutus,
aber doch mit Bezug auf die Urgeschichte Roms und das Sagenzeitalter Grie¬
chenlands. So oft eine Ueberlieferung, die lange Zeit entweder als reine
Geschichte oder als Conglomerat von Geschichte und Sage gegolten hat, völlig
umgeworfen wird, erhebt sich ein allgemeines Wehklagen aller guten Seelen
über diesen gemüthlosen Skepticismus, dem nichts heilig ist, und diese sophistische
Hyperkritik, die das von so vielen trefflichen Autoren Bezeugte zu verdächtigen
wagt. Ist der Angriff gegen die Ueberlieferung so mächtig und unwiderstehlich,
wie ihn Niebuhr gegen die Urgeschichte Roms machte, so kann man freilich
nicht gradezu widersprechen, wenn man nicht alles Urtheils baar ist (wie z. B.
in diesem Punkt die meisten italienischen Gelehrten); aber schwache Gemüther
können sich ebensowenig entschließen, der süßen Gewohnheit des Glaubens
völlig zu entsagen, als gegen die bündigen Beweise der negirenden Kritik sich
ganz zu verstocken. Sie suchen wenigstens einen Theil zu retten und behaup-


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[0176] höre Milton selbst. Nachdem er kurz die Sagen von SamotheS, dem Sohne Japhcits, Albion, dem Sohne Neptuns u. s. w. berührt hat, fährt er fort: „Der Brutus aber und sein Geschlecht mit allen seinen königlichen Nachkom¬ men bis zum Auftreten Julius Cäsars können wir nicht so leicht beseitigen, nicht so leicht die lange fortgeführten Stammbäume, Gesetze und Thaten, die nicht schlechthin erborgt zu sein scheinen und die keinen geringen Eindruck auf den allgemeinen Glauben gemacht haben; sie werden von vielen vertheidigt, nur von wenigen gänzlich geläugnet. Denn obgleich Brutus und der ganze Anspruch auf die Abstammung von Troja ausgegeben ist, da man sah, daß diejenigen, die zuerst für uns einen berühmten Ahnherrn erfanden, anfangs mit dem Consul Brutus zufrieden waren, bis eine bessere Erfindung, wiewol nicht geneigt den Namen fahren zu lassen, sie lehrte, ihn in ein fabelhafteres Zeitalter zu entfernen, und daß sie hierdurch auf die Sagen von Troja stoßend da den Stammbaum anfügten, aus dem Streben die Briten aus derselben Quelle herzuleiten wie die Römer: so kann man doch nicht ohne zu große Ungläubigkeit annehmen, daß diese alten eingebornen Könige nie wirkliche Personen gewesen seien, oder daß sie in ihrem Leben nicht wenigstens einen Theil von dem, was überliefert ist, sollten gethan haben. Aus diesen und den oben erwähnten Gründen habe ich das, was bei so vielen Billigung er¬ langt hat, nicht übergehen mögen. Ob es gewiß oder ungewiß ist, das möge von der Glaubwürdigkeit derer abhängen, denen ich folgen muß; so weit als es sich von dem Unmöglichen oder Abgeschmackten sern hält, und von alten Schriftstellern aus ältern Büchern belegt wird, weigere ich mich nicht , es als den gehörigen und geeigneten Gegenstand der Geschichte anzuerkennen." Dies Räsonnement, welches von dem Grundsatz ausgeht, daß, wo viel Dichtung ist, auch einige Wahrheit sein müsse, wird heute noch immer wieder¬ holt, zwar nicht mehr in Bezug auf die Nachkommen des Königs Brutus, aber doch mit Bezug auf die Urgeschichte Roms und das Sagenzeitalter Grie¬ chenlands. So oft eine Ueberlieferung, die lange Zeit entweder als reine Geschichte oder als Conglomerat von Geschichte und Sage gegolten hat, völlig umgeworfen wird, erhebt sich ein allgemeines Wehklagen aller guten Seelen über diesen gemüthlosen Skepticismus, dem nichts heilig ist, und diese sophistische Hyperkritik, die das von so vielen trefflichen Autoren Bezeugte zu verdächtigen wagt. Ist der Angriff gegen die Ueberlieferung so mächtig und unwiderstehlich, wie ihn Niebuhr gegen die Urgeschichte Roms machte, so kann man freilich nicht gradezu widersprechen, wenn man nicht alles Urtheils baar ist (wie z. B. in diesem Punkt die meisten italienischen Gelehrten); aber schwache Gemüther können sich ebensowenig entschließen, der süßen Gewohnheit des Glaubens völlig zu entsagen, als gegen die bündigen Beweise der negirenden Kritik sich ganz zu verstocken. Sie suchen wenigstens einen Theil zu retten und behaup-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/176>, abgerufen am 25.08.2024.