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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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bild des Lebens geben, d. h. sie soll den Inhalt des Lebens in seinen Haupt¬
ereignissen so darstellen, daß der Totaleindruck, welchen uns das geschilderte
Leben macht, möglichst genau dem Eindruck entspricht, den eine genaue und
unbefangene Bekanntschaft mit dem Helden selbst und seinem wirklichen Leben
uns hinterlassen haben würde. Nun kann die Biographie aber nur einen
sehr kleinen Theil von Thatsachen, einen verschwindend kleinen Theil von Ge¬
danken und Empfindungen ihres Helden schildern. Viele gute Handlungen
und viele schlechte werden ihr auch bei einem genau bekannten Leben ver¬
schwinden, sie wird zuletzt nur das erfassen, was als Ursache, Höhenpunkt
oder Folge der einflußreichsten Activnen eines Menschen erscheint. Bei solcher
nothwendigen Beschränkung gegenüber der großen Strömung jedes Menschen¬
lebens verrücken sich ganz und gar die Proportionen der einzelnen Handlungen
und ebensosehr die Eindrücke, welche dieselben in der Biographie auf uns
machen. Einzelne Thaten des Helden z. B., welche wir verurtheilen müssen,
nehmen in der Biographie, die sich immer verhältnißmäßig aus wenigen Momen¬
ten deS wirklichen Lebens zusammensetzen muß, vielleicht einen viel größern Raum
ein, als sie im wirklichen Leben einnahmen, und geben dem Bilde des Helden
vielleicht einen viel häßlichem Zug, als er in Wirklichkeit dadurch erhielt und
als ein ewiger Richter in ihm finden würde. DaS reinste und idealste Menschen¬
leben ist nicht nach einem Plan und nicht nach einer Idee angelegt, und
zahllos sind die Störungen und Trübungen, welche durch das Leben selbst auch
die in einer leicht erkennbaren Richtung forteilende Strömung erfährt; der Bio¬
graph aber wird immer genöthigt sein, die Idee und den Grundzug des Lebens
als Hauptsache zu behandeln, und wie er selbst nach einem Plan arbeiten muß,
auch das Planvolle des vollendeten Lebens stark hervorzuheben. Was diese
Einheit, Geschlossenheit, das für ihn vorzugsweise Charakteristische stört, das
mag ihn oft in arge Verlegenheit setzen. Ein Beispiel statt vieler. Gesetzt,
es wäre uns das ruchlose Tagebuch eines Karlschülers erhalten, in welchem
frevelhafte und gemeine Handlungen auch des jungen Schillers so erzählt
wären, daß wir an der Wahrheit nicht zweifeln dürften; der Gott, wel¬
cher das ganze volle Leben des großen Mannes mit einem Blick zusammen¬
faßt, dürfte mit mildem Lächeln darüber wegsehen, ein irdischer Biograph käme
dadurch in die bedenklichste Lage, denn die Mittheilung solcher Thatsachen gäbe
seinem Bilde einen Zug, der, wie er auch gemildert, erklärt und entschuldigt
würde, für unser sittliches Gefühl doch einen widerlichen Schatten auf eine
der hellsten Gestalten unsers Landes werfen könnte. Und wenn man in einem
solchen Falle gefragt würde, ob der Biograph wahr erzählt, wenn er der¬
gleichen in Wirklichkeit Geschehenes der Nachwelt überlieferte, man müßte die
Frage in diesem und einigen andern Fällen verneinen.

Wie über solche Schwierigkeiten der biographischen Darstellung hinweg-


bild des Lebens geben, d. h. sie soll den Inhalt des Lebens in seinen Haupt¬
ereignissen so darstellen, daß der Totaleindruck, welchen uns das geschilderte
Leben macht, möglichst genau dem Eindruck entspricht, den eine genaue und
unbefangene Bekanntschaft mit dem Helden selbst und seinem wirklichen Leben
uns hinterlassen haben würde. Nun kann die Biographie aber nur einen
sehr kleinen Theil von Thatsachen, einen verschwindend kleinen Theil von Ge¬
danken und Empfindungen ihres Helden schildern. Viele gute Handlungen
und viele schlechte werden ihr auch bei einem genau bekannten Leben ver¬
schwinden, sie wird zuletzt nur das erfassen, was als Ursache, Höhenpunkt
oder Folge der einflußreichsten Activnen eines Menschen erscheint. Bei solcher
nothwendigen Beschränkung gegenüber der großen Strömung jedes Menschen¬
lebens verrücken sich ganz und gar die Proportionen der einzelnen Handlungen
und ebensosehr die Eindrücke, welche dieselben in der Biographie auf uns
machen. Einzelne Thaten des Helden z. B., welche wir verurtheilen müssen,
nehmen in der Biographie, die sich immer verhältnißmäßig aus wenigen Momen¬
ten deS wirklichen Lebens zusammensetzen muß, vielleicht einen viel größern Raum
ein, als sie im wirklichen Leben einnahmen, und geben dem Bilde des Helden
vielleicht einen viel häßlichem Zug, als er in Wirklichkeit dadurch erhielt und
als ein ewiger Richter in ihm finden würde. DaS reinste und idealste Menschen¬
leben ist nicht nach einem Plan und nicht nach einer Idee angelegt, und
zahllos sind die Störungen und Trübungen, welche durch das Leben selbst auch
die in einer leicht erkennbaren Richtung forteilende Strömung erfährt; der Bio¬
graph aber wird immer genöthigt sein, die Idee und den Grundzug des Lebens
als Hauptsache zu behandeln, und wie er selbst nach einem Plan arbeiten muß,
auch das Planvolle des vollendeten Lebens stark hervorzuheben. Was diese
Einheit, Geschlossenheit, das für ihn vorzugsweise Charakteristische stört, das
mag ihn oft in arge Verlegenheit setzen. Ein Beispiel statt vieler. Gesetzt,
es wäre uns das ruchlose Tagebuch eines Karlschülers erhalten, in welchem
frevelhafte und gemeine Handlungen auch des jungen Schillers so erzählt
wären, daß wir an der Wahrheit nicht zweifeln dürften; der Gott, wel¬
cher das ganze volle Leben des großen Mannes mit einem Blick zusammen¬
faßt, dürfte mit mildem Lächeln darüber wegsehen, ein irdischer Biograph käme
dadurch in die bedenklichste Lage, denn die Mittheilung solcher Thatsachen gäbe
seinem Bilde einen Zug, der, wie er auch gemildert, erklärt und entschuldigt
würde, für unser sittliches Gefühl doch einen widerlichen Schatten auf eine
der hellsten Gestalten unsers Landes werfen könnte. Und wenn man in einem
solchen Falle gefragt würde, ob der Biograph wahr erzählt, wenn er der¬
gleichen in Wirklichkeit Geschehenes der Nachwelt überlieferte, man müßte die
Frage in diesem und einigen andern Fällen verneinen.

Wie über solche Schwierigkeiten der biographischen Darstellung hinweg-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/90>, abgerufen am 23.07.2024.