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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Bericht abzuwarten, gingen die Abgeordneten am 1. Juli auseinander, dem
Präsidenten es überlassend, sie, falls es Noth thäte, vor dem 1. October ein¬
zuberufen. Alle Parteien vielleicht ahnten eine nahe Krisis; doch diejenigen,
die am schwersten von ihr getroffen werden sollten, glaubten sich am Vorabend
einer Wendung, welche die ungetheilte Gewalt endlich in ihre Hände
legen würde.

So hat die progressistische Partei selbst den Staatsstreich vorbereitet und
-- verschuldet.




Die türkischen Staatsmänner.

ES ist noch nicht lange her, seit man in der Türkei Staatsmänner im
Sinne des Abendlandes besitzt. "Wem Gott ein Amt verleiht, wird er wol
auch den Verstand ertheilen," ist ein Glaubenssatz, der hier mehr wie irgend¬
wo in der Welt Geltung hatte und noch heut nicht ohne allen Credit ist.
Wie man sich erinnert, wurden unter der Regierung Sultan Mahmud II. die
ersten stehenden Gesandtschaften an europäischen Höfen errichtet. Die Reprä¬
sentanten des Padischah nahmen ein jeder eine Anzahl junger Leute mit sich,
die vorerst nur europäische Sitten und Sprachen kennen lernen, und nebenbei
als Secretäre und Schreiber fungiren sollten. Man entnahm sie in der Regel
aus dem Talla Katibler, der Classe der Schreiber, nur selten wurde ihnen ein
Offizier beigesellt. Diese Schreiberposten bei den Gesandtschaften, sind die
Pflanzschule der jetzt lebenden türkischen Staatsmänner geworden. Reschid,
. Aali und Fuad haben in dieser Stellung ihre schnelle Carriere eröffnet.

Wenn man Diplomaten nach der häufigen Erwähnung ihres Namens
in der europäischen Presse und nach der Länge ihrer öffentlichen Laufbahn
mißt, verdient Reschid Pascha unter seinen jetzigen Ministercollegen als der
erste und hervorragendste genannt zu werden. Denken Sie sich unter ihm
einen Mann von mittlerer Größe, die Haltung ein wenig gebückt, den Kopf
vorgeneigt, das Gesicht von tartarischen Typus, beherrscht von dunklen, schlauen
Augen und verunziert durch jene große, halbmondförmig gebogene Nase, die
vordem ein Hauptkennzeichen der türkischen Race gewesen zu sein scheint, all-
mälig aber durch vielfache Mischehen mit tscherkessischen Frauen seltener ge¬
worden ist. Die Physiognomie macht nicht den Eindruck einer hervorstechenden
Begabung, man liest aus diesen Zügen einen ruhigen und kalt abwägenden
Verstand. Aber von Biederkeit und Offenheit ist das Gesicht weit entfernt,
Unter den Augenbrauen, die in weiten, großen Bogen gezogen sind, im kleinen,
hellen Auge lauert List und Verschmitztheit. Reschid besitzt nicht die Gunst
der Massen. Noch weit weniger steht er bei seinen heutigen Ministercollegen in


Bericht abzuwarten, gingen die Abgeordneten am 1. Juli auseinander, dem
Präsidenten es überlassend, sie, falls es Noth thäte, vor dem 1. October ein¬
zuberufen. Alle Parteien vielleicht ahnten eine nahe Krisis; doch diejenigen,
die am schwersten von ihr getroffen werden sollten, glaubten sich am Vorabend
einer Wendung, welche die ungetheilte Gewalt endlich in ihre Hände
legen würde.

So hat die progressistische Partei selbst den Staatsstreich vorbereitet und
— verschuldet.




Die türkischen Staatsmänner.

ES ist noch nicht lange her, seit man in der Türkei Staatsmänner im
Sinne des Abendlandes besitzt. „Wem Gott ein Amt verleiht, wird er wol
auch den Verstand ertheilen," ist ein Glaubenssatz, der hier mehr wie irgend¬
wo in der Welt Geltung hatte und noch heut nicht ohne allen Credit ist.
Wie man sich erinnert, wurden unter der Regierung Sultan Mahmud II. die
ersten stehenden Gesandtschaften an europäischen Höfen errichtet. Die Reprä¬
sentanten des Padischah nahmen ein jeder eine Anzahl junger Leute mit sich,
die vorerst nur europäische Sitten und Sprachen kennen lernen, und nebenbei
als Secretäre und Schreiber fungiren sollten. Man entnahm sie in der Regel
aus dem Talla Katibler, der Classe der Schreiber, nur selten wurde ihnen ein
Offizier beigesellt. Diese Schreiberposten bei den Gesandtschaften, sind die
Pflanzschule der jetzt lebenden türkischen Staatsmänner geworden. Reschid,
. Aali und Fuad haben in dieser Stellung ihre schnelle Carriere eröffnet.

Wenn man Diplomaten nach der häufigen Erwähnung ihres Namens
in der europäischen Presse und nach der Länge ihrer öffentlichen Laufbahn
mißt, verdient Reschid Pascha unter seinen jetzigen Ministercollegen als der
erste und hervorragendste genannt zu werden. Denken Sie sich unter ihm
einen Mann von mittlerer Größe, die Haltung ein wenig gebückt, den Kopf
vorgeneigt, das Gesicht von tartarischen Typus, beherrscht von dunklen, schlauen
Augen und verunziert durch jene große, halbmondförmig gebogene Nase, die
vordem ein Hauptkennzeichen der türkischen Race gewesen zu sein scheint, all-
mälig aber durch vielfache Mischehen mit tscherkessischen Frauen seltener ge¬
worden ist. Die Physiognomie macht nicht den Eindruck einer hervorstechenden
Begabung, man liest aus diesen Zügen einen ruhigen und kalt abwägenden
Verstand. Aber von Biederkeit und Offenheit ist das Gesicht weit entfernt,
Unter den Augenbrauen, die in weiten, großen Bogen gezogen sind, im kleinen,
hellen Auge lauert List und Verschmitztheit. Reschid besitzt nicht die Gunst
der Massen. Noch weit weniger steht er bei seinen heutigen Ministercollegen in


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[0517] Bericht abzuwarten, gingen die Abgeordneten am 1. Juli auseinander, dem Präsidenten es überlassend, sie, falls es Noth thäte, vor dem 1. October ein¬ zuberufen. Alle Parteien vielleicht ahnten eine nahe Krisis; doch diejenigen, die am schwersten von ihr getroffen werden sollten, glaubten sich am Vorabend einer Wendung, welche die ungetheilte Gewalt endlich in ihre Hände legen würde. So hat die progressistische Partei selbst den Staatsstreich vorbereitet und — verschuldet. Die türkischen Staatsmänner. ES ist noch nicht lange her, seit man in der Türkei Staatsmänner im Sinne des Abendlandes besitzt. „Wem Gott ein Amt verleiht, wird er wol auch den Verstand ertheilen," ist ein Glaubenssatz, der hier mehr wie irgend¬ wo in der Welt Geltung hatte und noch heut nicht ohne allen Credit ist. Wie man sich erinnert, wurden unter der Regierung Sultan Mahmud II. die ersten stehenden Gesandtschaften an europäischen Höfen errichtet. Die Reprä¬ sentanten des Padischah nahmen ein jeder eine Anzahl junger Leute mit sich, die vorerst nur europäische Sitten und Sprachen kennen lernen, und nebenbei als Secretäre und Schreiber fungiren sollten. Man entnahm sie in der Regel aus dem Talla Katibler, der Classe der Schreiber, nur selten wurde ihnen ein Offizier beigesellt. Diese Schreiberposten bei den Gesandtschaften, sind die Pflanzschule der jetzt lebenden türkischen Staatsmänner geworden. Reschid, . Aali und Fuad haben in dieser Stellung ihre schnelle Carriere eröffnet. Wenn man Diplomaten nach der häufigen Erwähnung ihres Namens in der europäischen Presse und nach der Länge ihrer öffentlichen Laufbahn mißt, verdient Reschid Pascha unter seinen jetzigen Ministercollegen als der erste und hervorragendste genannt zu werden. Denken Sie sich unter ihm einen Mann von mittlerer Größe, die Haltung ein wenig gebückt, den Kopf vorgeneigt, das Gesicht von tartarischen Typus, beherrscht von dunklen, schlauen Augen und verunziert durch jene große, halbmondförmig gebogene Nase, die vordem ein Hauptkennzeichen der türkischen Race gewesen zu sein scheint, all- mälig aber durch vielfache Mischehen mit tscherkessischen Frauen seltener ge¬ worden ist. Die Physiognomie macht nicht den Eindruck einer hervorstechenden Begabung, man liest aus diesen Zügen einen ruhigen und kalt abwägenden Verstand. Aber von Biederkeit und Offenheit ist das Gesicht weit entfernt, Unter den Augenbrauen, die in weiten, großen Bogen gezogen sind, im kleinen, hellen Auge lauert List und Verschmitztheit. Reschid besitzt nicht die Gunst der Massen. Noch weit weniger steht er bei seinen heutigen Ministercollegen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/517>, abgerufen am 23.07.2024.