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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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schalte als die eigentliche Quelle aller reaktionären Bestrebungen betrachteten,
mit Adjutanten der schärfsten progressistischen Färbung bedacht. Trotz alles
Wechsels, aller Ausweisungen und der größten Wachsamkeit, gelang es aber
weder die Camarilla gänzlich aus dem Palast zu verbannen, noch dessen Ver¬
bindungen mit den Emigranten abzuschneiden. Die Intrigue war nur er¬
schreckt, nicht erstickt, behindert, nicht unmöglich gemacht; sie suchte und sand
geheimere Kanäle, nachdem ihre bisherigen Verbindungswege aufgedeckt und
verschüttet waren.

Bald nach Schlichtung dieser dornenvollen Angelegenheit traten die Cortes
wieder zusammen, oder vielmehr der Zeitpunkt erschien, welcher für ihren
Wiederzusammentritt bestimmt war. Denn fast der ganze Monat October
ging vorüber, ehe die Versammlung ihre beschlußfähige Anzahl erreichte. Die
nicht grade ehrenvolle Ursache dieser Verzögerung war die Cholera, die, nach¬
dem sie schon ihrem Erlöschen nahe schien, plötzlich gegen das Ende des Sep¬
tember wieder zunahm und einen vorher nicht gekannten Grad erreichte. Der
Eindruck, den die UnVollzähligkeit der Volksvertretung machte, war ein um so
ungünstigerer, als die Königin trotz der Seuche nach der Hauptstadt zurückkehrte.
Als endlich mit dem Abnehmen der Krankheit eine beschlußfähige Anzahl von
Abgeordneten sich einfand, wurde das Versassungswcrk rasch gefördert und vor
Ausgang November vollendet. Ein Jahr war seit dem ersten Zusammentritt
der Cortes verflossen, und man hätte glauben sollen, dieselben würden sich jetzt
beeilen, die Verfassung zu proclamiren und durch die Königin beschwören zu
lassen. Selbstverständlich hätte aber einem solchen Act die baldige Auflösung
der Constituante und die Einberufung ordentlicher, aus zwei Kammern -- wie
das neue Grundgesetz sie vorschrieb -- bestehender Cortes folgen müssen. Die
Versammlung war aber keineswegs gewillt, den Schauplatz so schnell zu räu¬
men. Sie deponirte die Verfassung in ihren Archiven und beschloß ihre Dauer
bis zur Vollendung der organischen Gesetze zu verlängern; zu diesen gehörten
außer dem Wahlgesetz, dessen Erledigung allerdings vor Trennung der Cortes
nothwendig war, die Gesetze über die Ayuntamientos und Provinzialdeputatio-
nen, über die Nationalmiliz, die Presse, den Staatsrath, die Ministerverant¬
wortlichkeit in., deren Entwürfe zum großen Theil noch nicht von den betreffenden
Commissionen beendigt waren. Glei.es der Verfassung sollten sie ein Ausfluß
der Nationalsouverainetät sein und daher der Constituante vorbehalten bleiben,
um der königlichen Sanction nicht zu bedürfen. Ueberließ man ihre Ab¬
fassung den ordentlichen Cortes, so mußten sie außerdem das legislative Sta¬
dium des Senats passiren. Die progrcssistische Partei sah gewiß mit Recht
in den organischen Gesetzen ein Supplement der Verfassung nicht weniger
wichtig, als diese selbst; mit einem freisinnigen Wahlgesetz aber, und bei der
Beschaffenheit des Senats, auf die wir zurückkommen werden, konnte sie


Grenzboten. IV. 18os. 63

schalte als die eigentliche Quelle aller reaktionären Bestrebungen betrachteten,
mit Adjutanten der schärfsten progressistischen Färbung bedacht. Trotz alles
Wechsels, aller Ausweisungen und der größten Wachsamkeit, gelang es aber
weder die Camarilla gänzlich aus dem Palast zu verbannen, noch dessen Ver¬
bindungen mit den Emigranten abzuschneiden. Die Intrigue war nur er¬
schreckt, nicht erstickt, behindert, nicht unmöglich gemacht; sie suchte und sand
geheimere Kanäle, nachdem ihre bisherigen Verbindungswege aufgedeckt und
verschüttet waren.

Bald nach Schlichtung dieser dornenvollen Angelegenheit traten die Cortes
wieder zusammen, oder vielmehr der Zeitpunkt erschien, welcher für ihren
Wiederzusammentritt bestimmt war. Denn fast der ganze Monat October
ging vorüber, ehe die Versammlung ihre beschlußfähige Anzahl erreichte. Die
nicht grade ehrenvolle Ursache dieser Verzögerung war die Cholera, die, nach¬
dem sie schon ihrem Erlöschen nahe schien, plötzlich gegen das Ende des Sep¬
tember wieder zunahm und einen vorher nicht gekannten Grad erreichte. Der
Eindruck, den die UnVollzähligkeit der Volksvertretung machte, war ein um so
ungünstigerer, als die Königin trotz der Seuche nach der Hauptstadt zurückkehrte.
Als endlich mit dem Abnehmen der Krankheit eine beschlußfähige Anzahl von
Abgeordneten sich einfand, wurde das Versassungswcrk rasch gefördert und vor
Ausgang November vollendet. Ein Jahr war seit dem ersten Zusammentritt
der Cortes verflossen, und man hätte glauben sollen, dieselben würden sich jetzt
beeilen, die Verfassung zu proclamiren und durch die Königin beschwören zu
lassen. Selbstverständlich hätte aber einem solchen Act die baldige Auflösung
der Constituante und die Einberufung ordentlicher, aus zwei Kammern — wie
das neue Grundgesetz sie vorschrieb — bestehender Cortes folgen müssen. Die
Versammlung war aber keineswegs gewillt, den Schauplatz so schnell zu räu¬
men. Sie deponirte die Verfassung in ihren Archiven und beschloß ihre Dauer
bis zur Vollendung der organischen Gesetze zu verlängern; zu diesen gehörten
außer dem Wahlgesetz, dessen Erledigung allerdings vor Trennung der Cortes
nothwendig war, die Gesetze über die Ayuntamientos und Provinzialdeputatio-
nen, über die Nationalmiliz, die Presse, den Staatsrath, die Ministerverant¬
wortlichkeit in., deren Entwürfe zum großen Theil noch nicht von den betreffenden
Commissionen beendigt waren. Glei.es der Verfassung sollten sie ein Ausfluß
der Nationalsouverainetät sein und daher der Constituante vorbehalten bleiben,
um der königlichen Sanction nicht zu bedürfen. Ueberließ man ihre Ab¬
fassung den ordentlichen Cortes, so mußten sie außerdem das legislative Sta¬
dium des Senats passiren. Die progrcssistische Partei sah gewiß mit Recht
in den organischen Gesetzen ein Supplement der Verfassung nicht weniger
wichtig, als diese selbst; mit einem freisinnigen Wahlgesetz aber, und bei der
Beschaffenheit des Senats, auf die wir zurückkommen werden, konnte sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/505>, abgerufen am 23.07.2024.