Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.daß dieses Strafsystem einsichtsvolle und menschliche Beamte verlangt, denn Ein zweites Bedenken ist folgendes. Die gute Wirkung einer solchen Am auffallendsten ist diese leidenschaftliche Analyse der wirklichen Gesell¬ Grenzboten. IV. 1836. 60
daß dieses Strafsystem einsichtsvolle und menschliche Beamte verlangt, denn Ein zweites Bedenken ist folgendes. Die gute Wirkung einer solchen Am auffallendsten ist diese leidenschaftliche Analyse der wirklichen Gesell¬ Grenzboten. IV. 1836. 60
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0481" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103076"/> <p xml:id="ID_1532" prev="#ID_1531"> daß dieses Strafsystem einsichtsvolle und menschliche Beamte verlangt, denn<lb/> das wahnsinnige Verfahren, welches hier geschildert wird, fallt nicht dem<lb/> System, sondern der Schlechtigkeit des ausführenden Beamten zur Last; und<lb/> damit ist für die Praxis eigentlich nichts bewiesen, denn von jener Wahrheit<lb/> ist man ohnehin überzeugt; es kommt nur darauf an, im einzelnen Fall den<lb/> richtigen Mann zu finden. . .</p><lb/> <p xml:id="ID_1533"> Ein zweites Bedenken ist folgendes. Die gute Wirkung einer solchen<lb/> Satire nach der einen Seite hin vorausgesetzt, wirb nach der andern ebenso<lb/> unzweifelhaft mehr verdorben, als dort gut gemacht wird. Wir erinnern an<lb/> die sittlichen Folgen einer Hinrichtung. Durchweg wird das Publicum, das<lb/> solchen Scenen beiwohnt, in seinem moralischen und ästhetischen Gefühl nicht<lb/> geläutert, sondern abgestumpft und verwildert. Ganz ähnlich dürfte es mit<lb/> jener Literatur beschaffen sein, die angeblich aus guten Absichten ausschließlich<lb/> auf die Nerven wirkt und diese durch die Detailmalerei greuelhafter Scenen<lb/> afficirt. Man denke an den ungeheuren Umfang dieser Literatur. Von den<lb/> phantastischen Gebilden der Dichter schlingen sich tausend unsichtbare Fäden<lb/> in die empfängliche Phantasie des Volks, und nicht die Absicht ist es, die<lb/> hasten bleibt, sondern der rohe Stoff. Wenn zuerst die sittliche Entrüstung,<lb/> mit der man die enthüllte Schlechtigkeit aufnahm, den physischen Schauer er¬<lb/> stickte, so erinnert man sich später dieses lüsternen Schauders mit einem ge¬<lb/> wissen Behagen, man erwartet ihn bei jedem neuen Erzeugnis) der Phantasie,<lb/> und ist mißgestimmt, wenn er ausbleibt. Die Verderbniß deS Geschmacks ist<lb/> auch in sittlicher Beziehung so bedenklich, daß die Einschärfung irgend einer<lb/> bestimmten sittlichen Wahrheit ihr nicht die Wage hält. Es ist das der alte<lb/> Irrthum über die sittliche Bedeutung der Poesie, der, so oft man ihn auch<lb/> bekämpft hat, immer wiederkehrt. Die schöne Kunst soll allerdings auf die<lb/> Sittlichkeit wirken, ja sie ist vielleicht der mächtigste Hebel, aber sie kann es<lb/> nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittelung des ästhetischen Gefühls.<lb/> Sie soll den Sinn sür das Schöne und Erhabene erregen und nähren, und<lb/> dadurch wird im Verein mit den zweckmäßigen Einrichtungen des öffentlichen<lb/> Lebens auch der Charakter eines ganzen Zeitalters veredelt. Will sie dagegen<lb/> augenblicklich das Gute fördern, so muß sie zweischneidige Waffen anwenden,<lb/> die dem Schlechten ebensowol dienen als dem Guten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1534" next="#ID_1535"> Am auffallendsten ist diese leidenschaftliche Analyse der wirklichen Gesell¬<lb/> schaft, wenn sie mit vollkommener Unklarheit über den idealen Sinn des<lb/> Lebens verknüpft ist; und das ist bei der englischen und amerikanischen moder¬<lb/> nen Literatur fast durchgängig der Fall. Die, Schule Earlyleö, wozu auch<lb/> Reate gehört, ist nicht socialistisch in dem französischen Sinn, aber sie übt im<lb/> Grunde dieselbe unheilvolle Wirkung aus, denn sie erregt ein leidenschaftliches<lb/> Mißvergnügen an den wirklichen Zuständen, und überläßt es der Träumerei</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. IV. 1836. 60</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0481]
daß dieses Strafsystem einsichtsvolle und menschliche Beamte verlangt, denn
das wahnsinnige Verfahren, welches hier geschildert wird, fallt nicht dem
System, sondern der Schlechtigkeit des ausführenden Beamten zur Last; und
damit ist für die Praxis eigentlich nichts bewiesen, denn von jener Wahrheit
ist man ohnehin überzeugt; es kommt nur darauf an, im einzelnen Fall den
richtigen Mann zu finden. . .
Ein zweites Bedenken ist folgendes. Die gute Wirkung einer solchen
Satire nach der einen Seite hin vorausgesetzt, wirb nach der andern ebenso
unzweifelhaft mehr verdorben, als dort gut gemacht wird. Wir erinnern an
die sittlichen Folgen einer Hinrichtung. Durchweg wird das Publicum, das
solchen Scenen beiwohnt, in seinem moralischen und ästhetischen Gefühl nicht
geläutert, sondern abgestumpft und verwildert. Ganz ähnlich dürfte es mit
jener Literatur beschaffen sein, die angeblich aus guten Absichten ausschließlich
auf die Nerven wirkt und diese durch die Detailmalerei greuelhafter Scenen
afficirt. Man denke an den ungeheuren Umfang dieser Literatur. Von den
phantastischen Gebilden der Dichter schlingen sich tausend unsichtbare Fäden
in die empfängliche Phantasie des Volks, und nicht die Absicht ist es, die
hasten bleibt, sondern der rohe Stoff. Wenn zuerst die sittliche Entrüstung,
mit der man die enthüllte Schlechtigkeit aufnahm, den physischen Schauer er¬
stickte, so erinnert man sich später dieses lüsternen Schauders mit einem ge¬
wissen Behagen, man erwartet ihn bei jedem neuen Erzeugnis) der Phantasie,
und ist mißgestimmt, wenn er ausbleibt. Die Verderbniß deS Geschmacks ist
auch in sittlicher Beziehung so bedenklich, daß die Einschärfung irgend einer
bestimmten sittlichen Wahrheit ihr nicht die Wage hält. Es ist das der alte
Irrthum über die sittliche Bedeutung der Poesie, der, so oft man ihn auch
bekämpft hat, immer wiederkehrt. Die schöne Kunst soll allerdings auf die
Sittlichkeit wirken, ja sie ist vielleicht der mächtigste Hebel, aber sie kann es
nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittelung des ästhetischen Gefühls.
Sie soll den Sinn sür das Schöne und Erhabene erregen und nähren, und
dadurch wird im Verein mit den zweckmäßigen Einrichtungen des öffentlichen
Lebens auch der Charakter eines ganzen Zeitalters veredelt. Will sie dagegen
augenblicklich das Gute fördern, so muß sie zweischneidige Waffen anwenden,
die dem Schlechten ebensowol dienen als dem Guten.
Am auffallendsten ist diese leidenschaftliche Analyse der wirklichen Gesell¬
schaft, wenn sie mit vollkommener Unklarheit über den idealen Sinn des
Lebens verknüpft ist; und das ist bei der englischen und amerikanischen moder¬
nen Literatur fast durchgängig der Fall. Die, Schule Earlyleö, wozu auch
Reate gehört, ist nicht socialistisch in dem französischen Sinn, aber sie übt im
Grunde dieselbe unheilvolle Wirkung aus, denn sie erregt ein leidenschaftliches
Mißvergnügen an den wirklichen Zuständen, und überläßt es der Träumerei
Grenzboten. IV. 1836. 60
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