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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Zug gebraucht, so muß er ihn nicht erst suchen dürfen, er muß in seiner
Seele bereits gegenwärtig sein und sich ihm gewissermaßen aufdrängen. Aber
vom Dichter gilt in noch weit höherm Grade wie vom Geschichtschreiber, daß
er unendlich mehr wissen muß, als sagen. Er muß im Stande sein, über
jeden einzelnen Moment im Leben und in der Seelcnbewegung seiner Figuren
die vollständigste Auskunft zu geben; jede kleine Veränderung ihrer Mienen
muß seiner Phantasie deutlich sein; aber er soll sich nicht etwa die Mühe
geben, das alles wirklich zu erzählen, er soll nicht abhängig sein von seinem
Material, sondern er soll über dasselbe nach Gesetzen der Kunst verfügen, er
soll aus der Masse seiner Farben diejenigen auswählen, die zu einem idealen
Gemälde nöthig sind. Die Wahrheit darstellen kann weder derjenige, der die
Wirklichkeit nicht kennt, noch derjenige, der ihr Sklave ist.

Wenn wir den Gegensatz des neuen Princips in seine einzelnen Momente
zerlegen, so ergeben sich folgende: die ästhetische Convenienz, der moralische
Dogmatismus und die romantische Illusion. Nach allen drei Seiten hin hat
der Realismus ursprünglich Recht, er sündigt nur darin, daß er den Gegen¬
satz auf die Spitze treibt.

Die frühere ästhetische Convenienz faßte ihre Gestalten und ihre Ereig¬
nisse typisch auf. Sie hatte ein bestimmtes Schema des idealen Denkens und
Empfindens und duldete keine Ursprünglichkeit, keine Irrationalität. Dieser
einseitige Idealismus gipfelt in der sogenannten classischen Schule der Fran¬
zosen, im akademischen Stil. Mit Recht hat man bemerkt, daß diese Ein¬
seitigkeit sie hinderte, scharf und bestimmt zu charakterisiren; aber die Forderung
wurde nicht ganz genau gestellt. Daß sie die empirische Wirklichkeit nicht cha-
rakterisirten, wäre an sich gleichgiltig gewesen; aber sie konnten auch ihre eigne
poetische Welt nicht so charakterisiren, daß sie in voller sinnlicher Klarheit vor
das Auge trat. -- Die neue Schule geht nun darauf aus, den Begriff deS
Irrationalen zu seinem Recht zu bringen. Einmal gibt sie von jedem Cha¬
rakter so viel verschiedene Eigenschaften, als sich mit dem ihr angewiesenen
Raum irgend vertragen; sodann sucht sie mit besonderer Vorliebe solche Fi¬
guren auf, die gegen das Gesetz und die Convenienz verstoßen, das heißt,
Sonderlinge, wunderliche Heilige, Kranke, zuletzt Narren und Verrückte.
Victor Hugo hat theoretisch festgestellt, das Princip der neuen Kunst sei daS
Groteske, und er hat in der That in den meisten Fällen eine Mißgeburt zu
seinem Helden gemacht, gleichviel ob eine physische oder moralische. Die
Helden der alten Poesie waren leicht zu berechnen; wenn man die zufälligen
Ereignisse ungefähr vorher wußte, konnte man den Dichter mit der größten
Bequemlichkeit ergänzen, was freilich für seine Wirkung nicht sehr förderlich
war. Die Helden der neuesten Poesie dagegen sind gar nicht zu berechnen;
sie überraschen uns in jedem Augenblick durch einen neuen wunderlichen Einfall,


Zug gebraucht, so muß er ihn nicht erst suchen dürfen, er muß in seiner
Seele bereits gegenwärtig sein und sich ihm gewissermaßen aufdrängen. Aber
vom Dichter gilt in noch weit höherm Grade wie vom Geschichtschreiber, daß
er unendlich mehr wissen muß, als sagen. Er muß im Stande sein, über
jeden einzelnen Moment im Leben und in der Seelcnbewegung seiner Figuren
die vollständigste Auskunft zu geben; jede kleine Veränderung ihrer Mienen
muß seiner Phantasie deutlich sein; aber er soll sich nicht etwa die Mühe
geben, das alles wirklich zu erzählen, er soll nicht abhängig sein von seinem
Material, sondern er soll über dasselbe nach Gesetzen der Kunst verfügen, er
soll aus der Masse seiner Farben diejenigen auswählen, die zu einem idealen
Gemälde nöthig sind. Die Wahrheit darstellen kann weder derjenige, der die
Wirklichkeit nicht kennt, noch derjenige, der ihr Sklave ist.

Wenn wir den Gegensatz des neuen Princips in seine einzelnen Momente
zerlegen, so ergeben sich folgende: die ästhetische Convenienz, der moralische
Dogmatismus und die romantische Illusion. Nach allen drei Seiten hin hat
der Realismus ursprünglich Recht, er sündigt nur darin, daß er den Gegen¬
satz auf die Spitze treibt.

Die frühere ästhetische Convenienz faßte ihre Gestalten und ihre Ereig¬
nisse typisch auf. Sie hatte ein bestimmtes Schema des idealen Denkens und
Empfindens und duldete keine Ursprünglichkeit, keine Irrationalität. Dieser
einseitige Idealismus gipfelt in der sogenannten classischen Schule der Fran¬
zosen, im akademischen Stil. Mit Recht hat man bemerkt, daß diese Ein¬
seitigkeit sie hinderte, scharf und bestimmt zu charakterisiren; aber die Forderung
wurde nicht ganz genau gestellt. Daß sie die empirische Wirklichkeit nicht cha-
rakterisirten, wäre an sich gleichgiltig gewesen; aber sie konnten auch ihre eigne
poetische Welt nicht so charakterisiren, daß sie in voller sinnlicher Klarheit vor
das Auge trat. — Die neue Schule geht nun darauf aus, den Begriff deS
Irrationalen zu seinem Recht zu bringen. Einmal gibt sie von jedem Cha¬
rakter so viel verschiedene Eigenschaften, als sich mit dem ihr angewiesenen
Raum irgend vertragen; sodann sucht sie mit besonderer Vorliebe solche Fi¬
guren auf, die gegen das Gesetz und die Convenienz verstoßen, das heißt,
Sonderlinge, wunderliche Heilige, Kranke, zuletzt Narren und Verrückte.
Victor Hugo hat theoretisch festgestellt, das Princip der neuen Kunst sei daS
Groteske, und er hat in der That in den meisten Fällen eine Mißgeburt zu
seinem Helden gemacht, gleichviel ob eine physische oder moralische. Die
Helden der alten Poesie waren leicht zu berechnen; wenn man die zufälligen
Ereignisse ungefähr vorher wußte, konnte man den Dichter mit der größten
Bequemlichkeit ergänzen, was freilich für seine Wirkung nicht sehr förderlich
war. Die Helden der neuesten Poesie dagegen sind gar nicht zu berechnen;
sie überraschen uns in jedem Augenblick durch einen neuen wunderlichen Einfall,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/477>, abgerufen am 23.07.2024.