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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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literarischen Streitigkeiten Gebrauch machte, ist kaum mehr die Rede, dagegen
sind neue aufgekommen, mit denen man sehr behutsam umgehen muß, um nicht
bei einem Begriff, der an sich etwas Richtiges hat, die verkehrten Folgerungen
mit in den Kauf zu nehmen. Unter den neuesten Stichwörtern ist eins der
beliebtesten das Princip des Realismus. Seit den großen Erfolgen der Dorf¬
geschichten spricht man auch in Deutschland von einer realistischen Schule; in
Frankreich eristirt sie schon seit Victor Hugo, und in England führt sie in
diesem Augenblick ganz unumschränkt die Herrschaft über alle Gattungen der
schönen Kunst. Es fehlt nicht an ähnlichen Versuchen in der Musik und
Plastik, und wenn die niederländische Malerschule eingestandenermaßen nichts
bezweckt, als ein mit den höchsten Mitteln der Technik ausgeführtes Porträt
der Wirklichkeit, wenn die französischen Maler seit Gericauld mit vollständiger
Aufgebung des akademischen Stils die Leidenschaften ihren barockesten Formen
nachzubilden suchen, so kann man der sogenannten Zukunftsmusik mittelbar
eine ähnliche Tendenz nachweisen; in ihren Motiven ist sie zwar außer¬
ordentlich spiritualistisch, aber die Mittel, die sie anwendet, und das ist zuletzt
bei der Kunst doch die Hauptsache, beruhen ganz und gar auf einer materia¬
listischen Charakteristik und nur aus dieser Seite ihres Talents geht der große
Eindruck hervor, den sie bei dem Volk hervorbringt: eS freut sich an der deut¬
lichen, ja die Wirklichkeit überbietendem Malerei Richard Wagners, nicht an
seinen hochromantischen sujets.

Der vorliegende Roman des geistvollen und sehr beliebten englischen
Schriftstellers Reate gibt uns eine willkommene Gelegenheit, das Princip des
Realismus schärfer ins Auge zu fasse". Wie grundsätzlich er verfährt, zeigt schon
der Titel, in dem er sich als einen in-Msr ok lave-Dichter dem Publicum vor¬
stellt. Wenn andere Dichter, deren Talent sich mehr zum Porträt, als zur
idealen Malerei neigt, instinctmäßig verfahren, so haben sich bei Reate die
Neigungen bereits zu einer Doctrin entwickelt.

Man erkennt die wahre Bedeutung eines neuen künstlerischen Princips
am deutlichsten, wenn man die Begriffe ins Auge saßt, gegen die eS sich zu¬
nächst richtet, deren ausschließliche Herrschaft endlich eine Reaction herbeiführen
mußte. Allein bei dem Gegensatz dieses neuen Princips, dem Idealismus,
ist es ein Uebelstand, daß man darunter sehr verschiedene Vorstellungen zu¬
sammenfaßt. Hier muß zunächst davor gewarnt werden, den neuen Realismus
nicht mit dem zu verwechseln, was man früher Objectivität nannte. Diese
Warnung ist darum nöthig, weil man in Schiller, dem Idealisten, den Gegen^
Satz sowol gegen das Princip der Objectivität, als des Realismus zu suchen
pflegt. Wenn man früher von einem Dichter verlangte, er solle objectiv sein,
so meinte man damit, er solle sich mit seiner Person nicht vordrängen, son¬
dern bei der Sache bleiben; er> solle seine Charaktere und seine Ereignisse ge-
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literarischen Streitigkeiten Gebrauch machte, ist kaum mehr die Rede, dagegen
sind neue aufgekommen, mit denen man sehr behutsam umgehen muß, um nicht
bei einem Begriff, der an sich etwas Richtiges hat, die verkehrten Folgerungen
mit in den Kauf zu nehmen. Unter den neuesten Stichwörtern ist eins der
beliebtesten das Princip des Realismus. Seit den großen Erfolgen der Dorf¬
geschichten spricht man auch in Deutschland von einer realistischen Schule; in
Frankreich eristirt sie schon seit Victor Hugo, und in England führt sie in
diesem Augenblick ganz unumschränkt die Herrschaft über alle Gattungen der
schönen Kunst. Es fehlt nicht an ähnlichen Versuchen in der Musik und
Plastik, und wenn die niederländische Malerschule eingestandenermaßen nichts
bezweckt, als ein mit den höchsten Mitteln der Technik ausgeführtes Porträt
der Wirklichkeit, wenn die französischen Maler seit Gericauld mit vollständiger
Aufgebung des akademischen Stils die Leidenschaften ihren barockesten Formen
nachzubilden suchen, so kann man der sogenannten Zukunftsmusik mittelbar
eine ähnliche Tendenz nachweisen; in ihren Motiven ist sie zwar außer¬
ordentlich spiritualistisch, aber die Mittel, die sie anwendet, und das ist zuletzt
bei der Kunst doch die Hauptsache, beruhen ganz und gar auf einer materia¬
listischen Charakteristik und nur aus dieser Seite ihres Talents geht der große
Eindruck hervor, den sie bei dem Volk hervorbringt: eS freut sich an der deut¬
lichen, ja die Wirklichkeit überbietendem Malerei Richard Wagners, nicht an
seinen hochromantischen sujets.

Der vorliegende Roman des geistvollen und sehr beliebten englischen
Schriftstellers Reate gibt uns eine willkommene Gelegenheit, das Princip des
Realismus schärfer ins Auge zu fasse». Wie grundsätzlich er verfährt, zeigt schon
der Titel, in dem er sich als einen in-Msr ok lave-Dichter dem Publicum vor¬
stellt. Wenn andere Dichter, deren Talent sich mehr zum Porträt, als zur
idealen Malerei neigt, instinctmäßig verfahren, so haben sich bei Reate die
Neigungen bereits zu einer Doctrin entwickelt.

Man erkennt die wahre Bedeutung eines neuen künstlerischen Princips
am deutlichsten, wenn man die Begriffe ins Auge saßt, gegen die eS sich zu¬
nächst richtet, deren ausschließliche Herrschaft endlich eine Reaction herbeiführen
mußte. Allein bei dem Gegensatz dieses neuen Princips, dem Idealismus,
ist es ein Uebelstand, daß man darunter sehr verschiedene Vorstellungen zu¬
sammenfaßt. Hier muß zunächst davor gewarnt werden, den neuen Realismus
nicht mit dem zu verwechseln, was man früher Objectivität nannte. Diese
Warnung ist darum nöthig, weil man in Schiller, dem Idealisten, den Gegen^
Satz sowol gegen das Princip der Objectivität, als des Realismus zu suchen
pflegt. Wenn man früher von einem Dichter verlangte, er solle objectiv sein,
so meinte man damit, er solle sich mit seiner Person nicht vordrängen, son¬
dern bei der Sache bleiben; er> solle seine Charaktere und seine Ereignisse ge-
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[0475] literarischen Streitigkeiten Gebrauch machte, ist kaum mehr die Rede, dagegen sind neue aufgekommen, mit denen man sehr behutsam umgehen muß, um nicht bei einem Begriff, der an sich etwas Richtiges hat, die verkehrten Folgerungen mit in den Kauf zu nehmen. Unter den neuesten Stichwörtern ist eins der beliebtesten das Princip des Realismus. Seit den großen Erfolgen der Dorf¬ geschichten spricht man auch in Deutschland von einer realistischen Schule; in Frankreich eristirt sie schon seit Victor Hugo, und in England führt sie in diesem Augenblick ganz unumschränkt die Herrschaft über alle Gattungen der schönen Kunst. Es fehlt nicht an ähnlichen Versuchen in der Musik und Plastik, und wenn die niederländische Malerschule eingestandenermaßen nichts bezweckt, als ein mit den höchsten Mitteln der Technik ausgeführtes Porträt der Wirklichkeit, wenn die französischen Maler seit Gericauld mit vollständiger Aufgebung des akademischen Stils die Leidenschaften ihren barockesten Formen nachzubilden suchen, so kann man der sogenannten Zukunftsmusik mittelbar eine ähnliche Tendenz nachweisen; in ihren Motiven ist sie zwar außer¬ ordentlich spiritualistisch, aber die Mittel, die sie anwendet, und das ist zuletzt bei der Kunst doch die Hauptsache, beruhen ganz und gar auf einer materia¬ listischen Charakteristik und nur aus dieser Seite ihres Talents geht der große Eindruck hervor, den sie bei dem Volk hervorbringt: eS freut sich an der deut¬ lichen, ja die Wirklichkeit überbietendem Malerei Richard Wagners, nicht an seinen hochromantischen sujets. Der vorliegende Roman des geistvollen und sehr beliebten englischen Schriftstellers Reate gibt uns eine willkommene Gelegenheit, das Princip des Realismus schärfer ins Auge zu fasse». Wie grundsätzlich er verfährt, zeigt schon der Titel, in dem er sich als einen in-Msr ok lave-Dichter dem Publicum vor¬ stellt. Wenn andere Dichter, deren Talent sich mehr zum Porträt, als zur idealen Malerei neigt, instinctmäßig verfahren, so haben sich bei Reate die Neigungen bereits zu einer Doctrin entwickelt. Man erkennt die wahre Bedeutung eines neuen künstlerischen Princips am deutlichsten, wenn man die Begriffe ins Auge saßt, gegen die eS sich zu¬ nächst richtet, deren ausschließliche Herrschaft endlich eine Reaction herbeiführen mußte. Allein bei dem Gegensatz dieses neuen Princips, dem Idealismus, ist es ein Uebelstand, daß man darunter sehr verschiedene Vorstellungen zu¬ sammenfaßt. Hier muß zunächst davor gewarnt werden, den neuen Realismus nicht mit dem zu verwechseln, was man früher Objectivität nannte. Diese Warnung ist darum nöthig, weil man in Schiller, dem Idealisten, den Gegen^ Satz sowol gegen das Princip der Objectivität, als des Realismus zu suchen pflegt. Wenn man früher von einem Dichter verlangte, er solle objectiv sein, so meinte man damit, er solle sich mit seiner Person nicht vordrängen, son¬ dern bei der Sache bleiben; er> solle seine Charaktere und seine Ereignisse ge- . .>, - ,,.^„ ^ ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/475>, abgerufen am 23.07.2024.