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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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lebendig. -- Das. Paradeisspiel besteht aus^ zwei Theilen. Im ersten wird
der Sündenfall der ersten Menschen behandelt. Lucifer führt den durch ihn
verlockten Adam vor Gott und verlangt seine Bestrafung. Die Gerechtigkeit
befürwortet seine Klage, die Barmherzigkeit ist Anwalt deS Beschuldigten; der
Rechtsstreit wird mit allen Mitteln der Dogmatik geführt und Barmherzigkeit
muß, bedrängt und überwunden, zu der Liebe Gottes des Sohnes flehen.
Dieser übernimmt die Sühnung der ewigen Strafe, während die zeitliche über
Adam kommen muß. Der Tod erscheint als Vollstrecker und Gott der Sohn
bricht auf, das Verlorne Schallein zu suchen und zu retten. Dies wird im zweiten
Theile, dem Spiele vom guten Hirten ausgeführt. Die menschliche Seele, in
Gestalt einer jungen lebenslustigen Schäferin, wird von dem guten Hirten
und dem als Jäger verkleideten Lucifer umworben. Dieser, bei dem alle
Freuden des Lebens winken, gefällt ihr besser als der mahnende ernste Hirt
und trotz der Warnungen des Engels erklärt sie sich für den Jäger. Damit
verfällt sie dem Tode; Furcht, Neue und Schmerz erfassen sie, aber die Hoff¬
nung auf Gnade verläßt sie nicht, und der gute Hirt jagt sie dem Tode und
Teufel ab. Gott der Vater vergibt ihr. Lucifer mit seinen drei Hauptteufeln,
ergrimmt über das entrissene Opfer und die Versöhnung der Menschen mit
Gott, von welcher er ausgeschlossen ist, beschließt trotzdem alles zu versuchen,
um die Welt an sich zu reißen. Die eingerissene Ketzerei macht ihm Hoffnungen;
allein der gute Hirt erscheint und verjagt ihn durch einen Donnerstrahl.

Das Paradeiöspiel ist ein merkwürdiges Zeugniß, wie unser Landvolk
weitläufig behandelten theologischen Fragen die lebendigste Theilnahme schenkt,
wenn sie in bewegter Handlung mit faßbaren Gestalten vor ihm vorüberziehen.
Es ist dabei in Anschlag zu bringen, daß sich diese Spiele grade in den Ge¬
genden erhielten, welche man sonst für minder regsam hält, nämlich in den
östreichischen Alpenländern und einigen andern deutschen Orten des Kaiser-
staates. Mehrfache Bearbeitungen gingen darüber hin; jetzt wird auch an sie
die letzte Hand, die des Todes gelegt. Wer ein Auge für solche Dinge hat,
sieht die alte Poesie aus dem Volksleben mit raschem Laufe entfliehen. Etwas
Neues, Besseres tritt nicht an die Stelle; Genußsucht und nüchterner Erwerb
zertreten das Feld, wo dem Volk einst eine grüne blumige Haide duftete.

Die besprochenen Aufführungen schmücken die Advente und die Weihnachts¬
tage, wo zugleich an der Wand auf abgestuften Gerüst die Krippel die bild¬
liche Erklärung zu den Worten geben. Die Geschichte der drei Könige weist
zugleich auf den letzten Tag der heiligen Wochen hin. Auch der Dreikönigstag
war in unserm Heidenthum ausgezeichnet; noch heute heißt er in Süddeuisch-
land der Verchtentag und viele Sagen gehen von der besondern Gewalt, welche
alsdann die geisterhafte Verchta auszuüben vermag. Gleichsam um noch einmal
Haus und Hof prüfend zu beschauen, wandert sie da durch das Land; die


lebendig. — Das. Paradeisspiel besteht aus^ zwei Theilen. Im ersten wird
der Sündenfall der ersten Menschen behandelt. Lucifer führt den durch ihn
verlockten Adam vor Gott und verlangt seine Bestrafung. Die Gerechtigkeit
befürwortet seine Klage, die Barmherzigkeit ist Anwalt deS Beschuldigten; der
Rechtsstreit wird mit allen Mitteln der Dogmatik geführt und Barmherzigkeit
muß, bedrängt und überwunden, zu der Liebe Gottes des Sohnes flehen.
Dieser übernimmt die Sühnung der ewigen Strafe, während die zeitliche über
Adam kommen muß. Der Tod erscheint als Vollstrecker und Gott der Sohn
bricht auf, das Verlorne Schallein zu suchen und zu retten. Dies wird im zweiten
Theile, dem Spiele vom guten Hirten ausgeführt. Die menschliche Seele, in
Gestalt einer jungen lebenslustigen Schäferin, wird von dem guten Hirten
und dem als Jäger verkleideten Lucifer umworben. Dieser, bei dem alle
Freuden des Lebens winken, gefällt ihr besser als der mahnende ernste Hirt
und trotz der Warnungen des Engels erklärt sie sich für den Jäger. Damit
verfällt sie dem Tode; Furcht, Neue und Schmerz erfassen sie, aber die Hoff¬
nung auf Gnade verläßt sie nicht, und der gute Hirt jagt sie dem Tode und
Teufel ab. Gott der Vater vergibt ihr. Lucifer mit seinen drei Hauptteufeln,
ergrimmt über das entrissene Opfer und die Versöhnung der Menschen mit
Gott, von welcher er ausgeschlossen ist, beschließt trotzdem alles zu versuchen,
um die Welt an sich zu reißen. Die eingerissene Ketzerei macht ihm Hoffnungen;
allein der gute Hirt erscheint und verjagt ihn durch einen Donnerstrahl.

Das Paradeiöspiel ist ein merkwürdiges Zeugniß, wie unser Landvolk
weitläufig behandelten theologischen Fragen die lebendigste Theilnahme schenkt,
wenn sie in bewegter Handlung mit faßbaren Gestalten vor ihm vorüberziehen.
Es ist dabei in Anschlag zu bringen, daß sich diese Spiele grade in den Ge¬
genden erhielten, welche man sonst für minder regsam hält, nämlich in den
östreichischen Alpenländern und einigen andern deutschen Orten des Kaiser-
staates. Mehrfache Bearbeitungen gingen darüber hin; jetzt wird auch an sie
die letzte Hand, die des Todes gelegt. Wer ein Auge für solche Dinge hat,
sieht die alte Poesie aus dem Volksleben mit raschem Laufe entfliehen. Etwas
Neues, Besseres tritt nicht an die Stelle; Genußsucht und nüchterner Erwerb
zertreten das Feld, wo dem Volk einst eine grüne blumige Haide duftete.

Die besprochenen Aufführungen schmücken die Advente und die Weihnachts¬
tage, wo zugleich an der Wand auf abgestuften Gerüst die Krippel die bild¬
liche Erklärung zu den Worten geben. Die Geschichte der drei Könige weist
zugleich auf den letzten Tag der heiligen Wochen hin. Auch der Dreikönigstag
war in unserm Heidenthum ausgezeichnet; noch heute heißt er in Süddeuisch-
land der Verchtentag und viele Sagen gehen von der besondern Gewalt, welche
alsdann die geisterhafte Verchta auszuüben vermag. Gleichsam um noch einmal
Haus und Hof prüfend zu beschauen, wandert sie da durch das Land; die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/455>, abgerufen am 23.07.2024.