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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Wir fürchten, daß sich Fabri auch die anderen Anekdoten rein hat aufbinden
lassen, nach welchen berühmte Physiologen gesagt haben sollen: "Wir müssen
bemerken, daß wir aus dem Wege der cracker Forschung (d. h. so oft wir
einen Leichnam secirten) nie noch Spuren einer Seele gefunden haben" oder
wornach ein anderer mit dem Messer einen Leichnam öffnend seinen Zuhörern
zugerufen haben soll: ,,Meine Herren, sehen Sie etwas von einer Seele?"
Die Zahl der berühmten Physiologen, welche zugleich Anatomen sind, ist klein;
wir wüßten unter diesen keinen Einzigen, dem wir solche elende Witze (denn
von Ernst kann nicht die Rede sein) zutrauen könnten, ganz bestimmt wird
keiner die Section einer Leiche eine eracte Forschung nennen, was vielmehr
wie ein schlechter Witz von der "kirchlichen" Seite her klingt, und so müssen
wir wol annehmen, daß Fabri den Kirchentag mit einigen Klatschereien unter¬
halten habe -- es sei venu, daß er jene Physiologen namhaft machen könnte.

Dem Vortrage des Pastor Euer können wir kein Lob spenden; er be¬
steht turchgeheniss aus Phrasen von modern-philosophischer Färbung, unter
welchen sich manche ziemlich sinnlose befinden. Cr sagt z. B. ,,So hat der
Glaube das wahre Wissen von der Natur principiell in sich und alle wahre
Erkenntniß der Natur hat die vollste Bürgschaft ihrer Wahrheit im Glauben."
Hier fehlt die psychologische Evidenz ganz und der Redner hatte offenbar nur
die verworrene Vorstellung, daß der Glaube etwas außerordentlich Vortreff¬
liches sei, was jede Wahrheit einschließen müsse. Dann war der Pastor
Euer auch auf die Idee gerathen, den Materialismus aus der Reformation abzu¬
leiten, weil diese die Autorität der Kirche durchbrochen und die "Subjectivität
entbunden" habe; letztere habe sich dann allzu sehr emancipirt und sich endlich
zum Materialismus verirrt. Diese Art von Geschichtsphilosophie wollte aber
dem Kirchentage gar nicht gefallen und Stahl wies sie später mit leichter
Mühe zurück.

Weiter brachte der Redner eine Menge Lobeserhebungen der mittelalter¬
lichen katholischen Kirche vor, rühmte sogar die Mönchsorden wegen ihrer
Wissenschaftlichkeit und hob hervor, daß selbst Luther ein Ordensmann gewesen
sei, vergaß aber dabei, daß dieser es unter den Mönchen eben nicht aushalten
konnte -- von der katholisirendcn Richtung seiner Partei scheint er also auch
mehr als genug angesteckt zu sein. Dann bedauert er eine Schwäche der
"Kirche"; sie habe es aufgegeben, eine objective Macht deS Lebens zu sein
und die anderen objectiven Mächte desselben in ihre Wirksamkeit zu ziehen,
Eherecht, Kirchenzucht, Sonntagsfeier, protestantische Kunst, alles sei dahin
und "mit allgemeiner Zustimmung nehme die Wissenschaft ihre Freiheit in


schmücken, namentlich da die Worte "Sterben" und "Tod" sich sonst allzu oft wiederholen.
Oder enthalt der unvermeidliche Ausdruck "Tod" anch verkappten Materialismus?

Wir fürchten, daß sich Fabri auch die anderen Anekdoten rein hat aufbinden
lassen, nach welchen berühmte Physiologen gesagt haben sollen: „Wir müssen
bemerken, daß wir aus dem Wege der cracker Forschung (d. h. so oft wir
einen Leichnam secirten) nie noch Spuren einer Seele gefunden haben" oder
wornach ein anderer mit dem Messer einen Leichnam öffnend seinen Zuhörern
zugerufen haben soll: ,,Meine Herren, sehen Sie etwas von einer Seele?"
Die Zahl der berühmten Physiologen, welche zugleich Anatomen sind, ist klein;
wir wüßten unter diesen keinen Einzigen, dem wir solche elende Witze (denn
von Ernst kann nicht die Rede sein) zutrauen könnten, ganz bestimmt wird
keiner die Section einer Leiche eine eracte Forschung nennen, was vielmehr
wie ein schlechter Witz von der „kirchlichen" Seite her klingt, und so müssen
wir wol annehmen, daß Fabri den Kirchentag mit einigen Klatschereien unter¬
halten habe — es sei venu, daß er jene Physiologen namhaft machen könnte.

Dem Vortrage des Pastor Euer können wir kein Lob spenden; er be¬
steht turchgeheniss aus Phrasen von modern-philosophischer Färbung, unter
welchen sich manche ziemlich sinnlose befinden. Cr sagt z. B. ,,So hat der
Glaube das wahre Wissen von der Natur principiell in sich und alle wahre
Erkenntniß der Natur hat die vollste Bürgschaft ihrer Wahrheit im Glauben."
Hier fehlt die psychologische Evidenz ganz und der Redner hatte offenbar nur
die verworrene Vorstellung, daß der Glaube etwas außerordentlich Vortreff¬
liches sei, was jede Wahrheit einschließen müsse. Dann war der Pastor
Euer auch auf die Idee gerathen, den Materialismus aus der Reformation abzu¬
leiten, weil diese die Autorität der Kirche durchbrochen und die „Subjectivität
entbunden" habe; letztere habe sich dann allzu sehr emancipirt und sich endlich
zum Materialismus verirrt. Diese Art von Geschichtsphilosophie wollte aber
dem Kirchentage gar nicht gefallen und Stahl wies sie später mit leichter
Mühe zurück.

Weiter brachte der Redner eine Menge Lobeserhebungen der mittelalter¬
lichen katholischen Kirche vor, rühmte sogar die Mönchsorden wegen ihrer
Wissenschaftlichkeit und hob hervor, daß selbst Luther ein Ordensmann gewesen
sei, vergaß aber dabei, daß dieser es unter den Mönchen eben nicht aushalten
konnte — von der katholisirendcn Richtung seiner Partei scheint er also auch
mehr als genug angesteckt zu sein. Dann bedauert er eine Schwäche der
„Kirche"; sie habe es aufgegeben, eine objective Macht deS Lebens zu sein
und die anderen objectiven Mächte desselben in ihre Wirksamkeit zu ziehen,
Eherecht, Kirchenzucht, Sonntagsfeier, protestantische Kunst, alles sei dahin
und „mit allgemeiner Zustimmung nehme die Wissenschaft ihre Freiheit in


schmücken, namentlich da die Worte „Sterben" und „Tod" sich sonst allzu oft wiederholen.
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[0394] Wir fürchten, daß sich Fabri auch die anderen Anekdoten rein hat aufbinden lassen, nach welchen berühmte Physiologen gesagt haben sollen: „Wir müssen bemerken, daß wir aus dem Wege der cracker Forschung (d. h. so oft wir einen Leichnam secirten) nie noch Spuren einer Seele gefunden haben" oder wornach ein anderer mit dem Messer einen Leichnam öffnend seinen Zuhörern zugerufen haben soll: ,,Meine Herren, sehen Sie etwas von einer Seele?" Die Zahl der berühmten Physiologen, welche zugleich Anatomen sind, ist klein; wir wüßten unter diesen keinen Einzigen, dem wir solche elende Witze (denn von Ernst kann nicht die Rede sein) zutrauen könnten, ganz bestimmt wird keiner die Section einer Leiche eine eracte Forschung nennen, was vielmehr wie ein schlechter Witz von der „kirchlichen" Seite her klingt, und so müssen wir wol annehmen, daß Fabri den Kirchentag mit einigen Klatschereien unter¬ halten habe — es sei venu, daß er jene Physiologen namhaft machen könnte. Dem Vortrage des Pastor Euer können wir kein Lob spenden; er be¬ steht turchgeheniss aus Phrasen von modern-philosophischer Färbung, unter welchen sich manche ziemlich sinnlose befinden. Cr sagt z. B. ,,So hat der Glaube das wahre Wissen von der Natur principiell in sich und alle wahre Erkenntniß der Natur hat die vollste Bürgschaft ihrer Wahrheit im Glauben." Hier fehlt die psychologische Evidenz ganz und der Redner hatte offenbar nur die verworrene Vorstellung, daß der Glaube etwas außerordentlich Vortreff¬ liches sei, was jede Wahrheit einschließen müsse. Dann war der Pastor Euer auch auf die Idee gerathen, den Materialismus aus der Reformation abzu¬ leiten, weil diese die Autorität der Kirche durchbrochen und die „Subjectivität entbunden" habe; letztere habe sich dann allzu sehr emancipirt und sich endlich zum Materialismus verirrt. Diese Art von Geschichtsphilosophie wollte aber dem Kirchentage gar nicht gefallen und Stahl wies sie später mit leichter Mühe zurück. Weiter brachte der Redner eine Menge Lobeserhebungen der mittelalter¬ lichen katholischen Kirche vor, rühmte sogar die Mönchsorden wegen ihrer Wissenschaftlichkeit und hob hervor, daß selbst Luther ein Ordensmann gewesen sei, vergaß aber dabei, daß dieser es unter den Mönchen eben nicht aushalten konnte — von der katholisirendcn Richtung seiner Partei scheint er also auch mehr als genug angesteckt zu sein. Dann bedauert er eine Schwäche der „Kirche"; sie habe es aufgegeben, eine objective Macht deS Lebens zu sein und die anderen objectiven Mächte desselben in ihre Wirksamkeit zu ziehen, Eherecht, Kirchenzucht, Sonntagsfeier, protestantische Kunst, alles sei dahin und „mit allgemeiner Zustimmung nehme die Wissenschaft ihre Freiheit in schmücken, namentlich da die Worte „Sterben" und „Tod" sich sonst allzu oft wiederholen. Oder enthalt der unvermeidliche Ausdruck „Tod" anch verkappten Materialismus?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/394>, abgerufen am 23.07.2024.