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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Erfüllung erhalten haben. Diese wahrhaft geschichtliche Substanz der Persön¬
lichkeit Christi ist es, die, nachdem sie einmal in der Welt erschienen, auch
die Welt als ihr absolut richtiger Begriff, oder als Ideal und Sache zugleich,
zu beherrschen bestimmt war. Allein die Form, in der dies geschehen sollte,
war, wenn man den Ausdruck nicht mißverstehen will, dem Zufall überlassen.
Die Substanz Christi selbst, unerschöpflich wie sie ist, weil sie das Absolute
in seiner Realität hat, konnte von nun an auf die verschiedenste Weise in das
Relative, in die wirkliche Welt oder in das menschliche Bewußtsein eingehen
und jede Auffassung war in ihrer Weise ebenso berechtigt, wie die andere.
Jede war für die Relation, unter deren Bann sie stand, das absolute Maß
der Erkenntniß Christi, was dieser Relation gegeben war und jede Auffassung
wird für alle Zeiten der weiteren Geschichte sich nie höher als bis zu einer
solchen Relation erheben können. Der Zufall wirkt dabei insofern mit, als
dem absoluten Ideale der Menschheit, wie es in Christus erschien, die be¬
sonderen Phasen deS menschlichen Daseins und der geschichtlichen Bedingungen,
in denen sich die Wirklichkeit bewegt, im letzten Grunde alle gleich fern und
gleich nahe stehen, weil alle gleich relativ sind" u. s. w. -- Man hat in
neuerer Zeit mehrfach versucht, die Widersprüche zwischen manchen Dogmen
des Christenthums und dem jetzt herrschenden sittlichen Bewußtsein dadurch
auszugleichen, daß man sich ein philosophisch geläutertes Christenthum der
Zukunft vorstellt. Wie weit nun in dieser Beziehung Rückerts Entwurf seine
Berechtigung hat, können wir dahingestellt sein lassen; das historische Christen¬
thum charakterisirt er auf keinen Fall. Hätte Rückert die christlichen Schrift-
sieller der drei ersten Jahrhunderte schärfer ins Auge gefaßt, so würde er da¬
durch nicht blos eine lebhaftere Farbe, sondern auch eine bestimmtere Zeichnung
gewonnen haben. Die Philosophie der Geschichte muß ihre Zeichnung mit
einer gewissen Freiheit entwerfen, aber sie muß dabei immer die historischen
Zeugnisse sorgfältig vor Augen halten und in jedem Augenblick bereit sein,
eine gewagte Behauptung durch bestimmte Documente belegen zu können. Für
sie ist, wie für die eigentliche Geschichte, das bestimmte Bewußtsein über die
Grenze, wo ihr Wissen aufhört, das erste Erforderniß zu einem gedeihlichen
Fortschritt.

Wir schließen mit dem Versuch eines jüngern Schriftstellers"') die Philo¬
sophie der Kunst dem größern Publicum zugänglich zu machen. Die Idee an
sich ist vollkommen gerechtfertigt. Die Metaphysik des Schönen ist namentlich
durch die Anregung der hegelschen Schule so gründlich nach allen Seiten hin
durchdacht und verarbeitet worden, daß es höchst wünschenswert!) sein muß,



") Aesthetik in Umrissen. Zur philosophischen Orientirung ans dem Gebiet der
Künste. Von Josef Bayer. Erster Band. Prag, H. Marcy- --

Erfüllung erhalten haben. Diese wahrhaft geschichtliche Substanz der Persön¬
lichkeit Christi ist es, die, nachdem sie einmal in der Welt erschienen, auch
die Welt als ihr absolut richtiger Begriff, oder als Ideal und Sache zugleich,
zu beherrschen bestimmt war. Allein die Form, in der dies geschehen sollte,
war, wenn man den Ausdruck nicht mißverstehen will, dem Zufall überlassen.
Die Substanz Christi selbst, unerschöpflich wie sie ist, weil sie das Absolute
in seiner Realität hat, konnte von nun an auf die verschiedenste Weise in das
Relative, in die wirkliche Welt oder in das menschliche Bewußtsein eingehen
und jede Auffassung war in ihrer Weise ebenso berechtigt, wie die andere.
Jede war für die Relation, unter deren Bann sie stand, das absolute Maß
der Erkenntniß Christi, was dieser Relation gegeben war und jede Auffassung
wird für alle Zeiten der weiteren Geschichte sich nie höher als bis zu einer
solchen Relation erheben können. Der Zufall wirkt dabei insofern mit, als
dem absoluten Ideale der Menschheit, wie es in Christus erschien, die be¬
sonderen Phasen deS menschlichen Daseins und der geschichtlichen Bedingungen,
in denen sich die Wirklichkeit bewegt, im letzten Grunde alle gleich fern und
gleich nahe stehen, weil alle gleich relativ sind" u. s. w. — Man hat in
neuerer Zeit mehrfach versucht, die Widersprüche zwischen manchen Dogmen
des Christenthums und dem jetzt herrschenden sittlichen Bewußtsein dadurch
auszugleichen, daß man sich ein philosophisch geläutertes Christenthum der
Zukunft vorstellt. Wie weit nun in dieser Beziehung Rückerts Entwurf seine
Berechtigung hat, können wir dahingestellt sein lassen; das historische Christen¬
thum charakterisirt er auf keinen Fall. Hätte Rückert die christlichen Schrift-
sieller der drei ersten Jahrhunderte schärfer ins Auge gefaßt, so würde er da¬
durch nicht blos eine lebhaftere Farbe, sondern auch eine bestimmtere Zeichnung
gewonnen haben. Die Philosophie der Geschichte muß ihre Zeichnung mit
einer gewissen Freiheit entwerfen, aber sie muß dabei immer die historischen
Zeugnisse sorgfältig vor Augen halten und in jedem Augenblick bereit sein,
eine gewagte Behauptung durch bestimmte Documente belegen zu können. Für
sie ist, wie für die eigentliche Geschichte, das bestimmte Bewußtsein über die
Grenze, wo ihr Wissen aufhört, das erste Erforderniß zu einem gedeihlichen
Fortschritt.

Wir schließen mit dem Versuch eines jüngern Schriftstellers"') die Philo¬
sophie der Kunst dem größern Publicum zugänglich zu machen. Die Idee an
sich ist vollkommen gerechtfertigt. Die Metaphysik des Schönen ist namentlich
durch die Anregung der hegelschen Schule so gründlich nach allen Seiten hin
durchdacht und verarbeitet worden, daß es höchst wünschenswert!) sein muß,



") Aesthetik in Umrissen. Zur philosophischen Orientirung ans dem Gebiet der
Künste. Von Josef Bayer. Erster Band. Prag, H. Marcy- —
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[0390] Erfüllung erhalten haben. Diese wahrhaft geschichtliche Substanz der Persön¬ lichkeit Christi ist es, die, nachdem sie einmal in der Welt erschienen, auch die Welt als ihr absolut richtiger Begriff, oder als Ideal und Sache zugleich, zu beherrschen bestimmt war. Allein die Form, in der dies geschehen sollte, war, wenn man den Ausdruck nicht mißverstehen will, dem Zufall überlassen. Die Substanz Christi selbst, unerschöpflich wie sie ist, weil sie das Absolute in seiner Realität hat, konnte von nun an auf die verschiedenste Weise in das Relative, in die wirkliche Welt oder in das menschliche Bewußtsein eingehen und jede Auffassung war in ihrer Weise ebenso berechtigt, wie die andere. Jede war für die Relation, unter deren Bann sie stand, das absolute Maß der Erkenntniß Christi, was dieser Relation gegeben war und jede Auffassung wird für alle Zeiten der weiteren Geschichte sich nie höher als bis zu einer solchen Relation erheben können. Der Zufall wirkt dabei insofern mit, als dem absoluten Ideale der Menschheit, wie es in Christus erschien, die be¬ sonderen Phasen deS menschlichen Daseins und der geschichtlichen Bedingungen, in denen sich die Wirklichkeit bewegt, im letzten Grunde alle gleich fern und gleich nahe stehen, weil alle gleich relativ sind" u. s. w. — Man hat in neuerer Zeit mehrfach versucht, die Widersprüche zwischen manchen Dogmen des Christenthums und dem jetzt herrschenden sittlichen Bewußtsein dadurch auszugleichen, daß man sich ein philosophisch geläutertes Christenthum der Zukunft vorstellt. Wie weit nun in dieser Beziehung Rückerts Entwurf seine Berechtigung hat, können wir dahingestellt sein lassen; das historische Christen¬ thum charakterisirt er auf keinen Fall. Hätte Rückert die christlichen Schrift- sieller der drei ersten Jahrhunderte schärfer ins Auge gefaßt, so würde er da¬ durch nicht blos eine lebhaftere Farbe, sondern auch eine bestimmtere Zeichnung gewonnen haben. Die Philosophie der Geschichte muß ihre Zeichnung mit einer gewissen Freiheit entwerfen, aber sie muß dabei immer die historischen Zeugnisse sorgfältig vor Augen halten und in jedem Augenblick bereit sein, eine gewagte Behauptung durch bestimmte Documente belegen zu können. Für sie ist, wie für die eigentliche Geschichte, das bestimmte Bewußtsein über die Grenze, wo ihr Wissen aufhört, das erste Erforderniß zu einem gedeihlichen Fortschritt. Wir schließen mit dem Versuch eines jüngern Schriftstellers"') die Philo¬ sophie der Kunst dem größern Publicum zugänglich zu machen. Die Idee an sich ist vollkommen gerechtfertigt. Die Metaphysik des Schönen ist namentlich durch die Anregung der hegelschen Schule so gründlich nach allen Seiten hin durchdacht und verarbeitet worden, daß es höchst wünschenswert!) sein muß, ") Aesthetik in Umrissen. Zur philosophischen Orientirung ans dem Gebiet der Künste. Von Josef Bayer. Erster Band. Prag, H. Marcy- —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/390>, abgerufen am 23.07.2024.