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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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-- Die wichtigste Frage, welche die Philosophie der Geschichte zu lösen hat,
ist die Frage nach dem wahren Inhalt des Christenthums; aber sie wird nur
dann die Wissenschaft fördern, wenn sie sich vollkommen deutlich macht, wo
die Grenze zwischen dem, was sie erklären kann, aufhört. Auch wenn der
Geschichtschreiber von der Ueberzeugung ausgeht, in der Thatsache des Christen¬
thums sei etwas Uebernatürliches, so wird er doch auch eine natürliche Seite
auffinden können, und diese wird für seinen Zweck die ungleich wichtigere
sein. Wie man über das Wunder denkt, daß Christus mit fünf Broden fünf¬
tausend Mann gespeist hat, ist für die Philosophie der Geschichte ziemlich
gleichgiltig; dagegen gibt es ein weit größeres Wunder, auf das sie noth¬
wendig eingehn muß: das Wunder der Annahme des Christenthums durch
das römische Reich. Zur Erklärung dieses Wunders wird das gewöhnliche
historische Material in keiner Weise ausreichen, denn die Quellen geben uns
nur einzelne Blicke in ein Labyrinth, dessen Ganzes uns völlig dunkel ist.
Hier muß nun eine Einsicht in den menschlichen Geist im Allgemeinen, in
das Wesen der Religion und in den sittlichen Zustand der römischen Welt,
der eines Heils, wie es das Christenthum verkündigte, bedürftig war, und
es daher provocirte, das Quellenstudium ergänzen. Rückert versteht die Be¬
deutung dieses Problems sehr wohl. Das hat er schon bei seinem frühern
Werk, der deutschen Kulturgeschichte gezeigt, wo er freilich der Hypothese einen
zu großen Spielraum läßt. Aber er hat sich dies Mal entweder die Sache
zu leicht gemacht, oder er ist nicht ganz unbefangen gewesen. Als Beleg
führen wir die Hauptstelle selber an. "Es gibt nichts, was sich leichter be¬
greifen ließe als die geschichtliche Laufbahn Christi in der Mitte seines eignen
Volkes, wenn man sie nur vom jüdischen Standpunkte aus betrachtet; es
gibt aber auch nichts, was dem menschlichen Geiste ewig unbegreiflicher bleiben
muß, als diese geschichtliche Thätigkeit Christi, sobald man sie in ihrer all¬
gemein menschlichen Bedeutung saßt. Denn in dieser ist sie die eigentliche
Erfüllung des Zieles aller Geschichte, oder der menschlichen Entwicklung über¬
haupt, die völlige Versöhnung deö Zwiespaltes in dem menschlichen Dasein,
von welchem überhaupt das Dasein einer geschichtlichen Entwicklung bedingt
wird, die völlige Aufhebung der Gegensätze, Nothwendigkeit und Freiheit
innerhalb und außerhalb des Subjectes, die völlige Zurückführung des Men¬
schen auf seinen Naturzustand, ehe er mit dem Bewußtsein des Zwiespaltes
oder der Sünde in die Geschichte eintrat, und die völlige Vernichtung aller
und jeder Gewalt, welche die Natur über den Menschen hat. Das menschliche
Dasein ist in der Wirklichkeit der Person Christi ebensowol reiner und abso¬
luter Geist oder Begriff geworden, wie es in ihm reine und absolute Natur
ist und die Gegensätze zwischen Aeußeren und Innerem, Geist und Natur
sind in ihm ebenso vollständig ausgehoben, wie sie in ihm ihre vollständigste


— Die wichtigste Frage, welche die Philosophie der Geschichte zu lösen hat,
ist die Frage nach dem wahren Inhalt des Christenthums; aber sie wird nur
dann die Wissenschaft fördern, wenn sie sich vollkommen deutlich macht, wo
die Grenze zwischen dem, was sie erklären kann, aufhört. Auch wenn der
Geschichtschreiber von der Ueberzeugung ausgeht, in der Thatsache des Christen¬
thums sei etwas Uebernatürliches, so wird er doch auch eine natürliche Seite
auffinden können, und diese wird für seinen Zweck die ungleich wichtigere
sein. Wie man über das Wunder denkt, daß Christus mit fünf Broden fünf¬
tausend Mann gespeist hat, ist für die Philosophie der Geschichte ziemlich
gleichgiltig; dagegen gibt es ein weit größeres Wunder, auf das sie noth¬
wendig eingehn muß: das Wunder der Annahme des Christenthums durch
das römische Reich. Zur Erklärung dieses Wunders wird das gewöhnliche
historische Material in keiner Weise ausreichen, denn die Quellen geben uns
nur einzelne Blicke in ein Labyrinth, dessen Ganzes uns völlig dunkel ist.
Hier muß nun eine Einsicht in den menschlichen Geist im Allgemeinen, in
das Wesen der Religion und in den sittlichen Zustand der römischen Welt,
der eines Heils, wie es das Christenthum verkündigte, bedürftig war, und
es daher provocirte, das Quellenstudium ergänzen. Rückert versteht die Be¬
deutung dieses Problems sehr wohl. Das hat er schon bei seinem frühern
Werk, der deutschen Kulturgeschichte gezeigt, wo er freilich der Hypothese einen
zu großen Spielraum läßt. Aber er hat sich dies Mal entweder die Sache
zu leicht gemacht, oder er ist nicht ganz unbefangen gewesen. Als Beleg
führen wir die Hauptstelle selber an. „Es gibt nichts, was sich leichter be¬
greifen ließe als die geschichtliche Laufbahn Christi in der Mitte seines eignen
Volkes, wenn man sie nur vom jüdischen Standpunkte aus betrachtet; es
gibt aber auch nichts, was dem menschlichen Geiste ewig unbegreiflicher bleiben
muß, als diese geschichtliche Thätigkeit Christi, sobald man sie in ihrer all¬
gemein menschlichen Bedeutung saßt. Denn in dieser ist sie die eigentliche
Erfüllung des Zieles aller Geschichte, oder der menschlichen Entwicklung über¬
haupt, die völlige Versöhnung deö Zwiespaltes in dem menschlichen Dasein,
von welchem überhaupt das Dasein einer geschichtlichen Entwicklung bedingt
wird, die völlige Aufhebung der Gegensätze, Nothwendigkeit und Freiheit
innerhalb und außerhalb des Subjectes, die völlige Zurückführung des Men¬
schen auf seinen Naturzustand, ehe er mit dem Bewußtsein des Zwiespaltes
oder der Sünde in die Geschichte eintrat, und die völlige Vernichtung aller
und jeder Gewalt, welche die Natur über den Menschen hat. Das menschliche
Dasein ist in der Wirklichkeit der Person Christi ebensowol reiner und abso¬
luter Geist oder Begriff geworden, wie es in ihm reine und absolute Natur
ist und die Gegensätze zwischen Aeußeren und Innerem, Geist und Natur
sind in ihm ebenso vollständig ausgehoben, wie sie in ihm ihre vollständigste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/389>, abgerufen am 23.07.2024.