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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Haupt bewiesen und erklärt werden kann, durch sich selbst und nicht durch
ein von außen hereingetragenes Princip des Denkens." Es ist aber ein Irr¬
thum, wenn Rückert annimmt,' die frühere Philosophie der Geschichte, höchstens
Fichte ausgenommen, der, wie schon oben bemerkt, sich um die sonstige Wissen¬
schaft überhaupt gar nicht kümmerte, hätte nicht dasselbe gewollt. Hegel sagt
in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte etwas ganz Aehnliches,
wenn er auch freilich seinem Versprechen ebensowenig treu bleibt, als, wie
wir später zeigen werden, der Verfasser des vorliegenden Werks, der folgender¬
maßen fortfährt: "Ich möchte nicht, daß von diesem Buche gesagt werde, es
solle eine Philosophie der Geschichte sein, aber es würde mich freuen, wenn
man finden könnte, daß die große Förderung, welche die geschichtlichen Stu¬
dien durch die moderne Philosophie erhalten haben, auch in diesem Buche be¬
merkbar sei. Eine Philosophie der Geschichte soll es schön deshalb nicht sein,
weil es auf der Boraussetzung ruht und diese Voraussetzung auch überall an
dem gehörigen Orte ausdrücklich bekennt, daß der innere Zusammenhang der
geschichtlichen Erscheinungen durch eine Menge unerklärter und unerklärbarer
Phänomene unterbrochen ist, und daß die Gesammterscheinung der menschlichen
Entwicklung in der Geschichte aus einem an sich dunkeln und undurchdring¬
lichen Hintergrunds hervortritt." Es ist das eine sehr wichtige Bemerkung,
die das Wesen der Sache trifft, und die, wenn überhaupt in empirischen Dingen
von einer Construction ii priori die Rede sein könnte, allein schon hinreichen
würde, nachzuweisen, daß in der Geschichte davon nicht die Rede sein kann.
Man mag mit Hegel die Geschichte als die Entwicklung der Freiheit bezeichnen,
jedenfalls ist die Freiheit nur das Object, nicht das Subject dieser Entwicklung,
denn'der Träger der Freiheit, der Mensch oder die Menschheit, hat die Ge¬
schichte nicht gemacht, sondern er ist unter ganz bestimmten, aus dem Begriff
der Menschheit nicht herzuleitenden Naturbedingungen das geworden, was er
werden konnte. Es bleibt in der Construction der Geschichte ein irrationeller
Rest. Diese Wahrheit anzuerkennen, ist grade die Philosophie der Geschichte
am meisten berufen, da sie sich sonst in leere Träumereien verflüchtigen würde.
Sie wird, um den alten Ausdruck beizubehalten, die Transscendenz nur dann
vermeiden, wenn sie genau die Grenze, feststeckt, innerhalb deren sie mit ihren
Mitteln ausreicht, und von dem, was jenseits derselben liegt, einfach und
offen zugesteht, daß sie es nicht weiß. Dasselbe gilt von der Rechts-, Reli-
gions- und Kunstphilosophie.

Nach allen drei Richtungen, die wir hier charakteristrt haben, liegen uns
in diesem Augenblick sehr bedeutende Versuche vor, die in ihrem Detail zu
prüfen hier nicht der Ort ist; wir begnügen uns damit, auf die Stelle hinzu¬
weisen, die ihnen bei dem zu erwartenden Fortschritt der Philosophie im All¬
gemeinen zukommt.


Haupt bewiesen und erklärt werden kann, durch sich selbst und nicht durch
ein von außen hereingetragenes Princip des Denkens." Es ist aber ein Irr¬
thum, wenn Rückert annimmt,' die frühere Philosophie der Geschichte, höchstens
Fichte ausgenommen, der, wie schon oben bemerkt, sich um die sonstige Wissen¬
schaft überhaupt gar nicht kümmerte, hätte nicht dasselbe gewollt. Hegel sagt
in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte etwas ganz Aehnliches,
wenn er auch freilich seinem Versprechen ebensowenig treu bleibt, als, wie
wir später zeigen werden, der Verfasser des vorliegenden Werks, der folgender¬
maßen fortfährt: „Ich möchte nicht, daß von diesem Buche gesagt werde, es
solle eine Philosophie der Geschichte sein, aber es würde mich freuen, wenn
man finden könnte, daß die große Förderung, welche die geschichtlichen Stu¬
dien durch die moderne Philosophie erhalten haben, auch in diesem Buche be¬
merkbar sei. Eine Philosophie der Geschichte soll es schön deshalb nicht sein,
weil es auf der Boraussetzung ruht und diese Voraussetzung auch überall an
dem gehörigen Orte ausdrücklich bekennt, daß der innere Zusammenhang der
geschichtlichen Erscheinungen durch eine Menge unerklärter und unerklärbarer
Phänomene unterbrochen ist, und daß die Gesammterscheinung der menschlichen
Entwicklung in der Geschichte aus einem an sich dunkeln und undurchdring¬
lichen Hintergrunds hervortritt." Es ist das eine sehr wichtige Bemerkung,
die das Wesen der Sache trifft, und die, wenn überhaupt in empirischen Dingen
von einer Construction ii priori die Rede sein könnte, allein schon hinreichen
würde, nachzuweisen, daß in der Geschichte davon nicht die Rede sein kann.
Man mag mit Hegel die Geschichte als die Entwicklung der Freiheit bezeichnen,
jedenfalls ist die Freiheit nur das Object, nicht das Subject dieser Entwicklung,
denn'der Träger der Freiheit, der Mensch oder die Menschheit, hat die Ge¬
schichte nicht gemacht, sondern er ist unter ganz bestimmten, aus dem Begriff
der Menschheit nicht herzuleitenden Naturbedingungen das geworden, was er
werden konnte. Es bleibt in der Construction der Geschichte ein irrationeller
Rest. Diese Wahrheit anzuerkennen, ist grade die Philosophie der Geschichte
am meisten berufen, da sie sich sonst in leere Träumereien verflüchtigen würde.
Sie wird, um den alten Ausdruck beizubehalten, die Transscendenz nur dann
vermeiden, wenn sie genau die Grenze, feststeckt, innerhalb deren sie mit ihren
Mitteln ausreicht, und von dem, was jenseits derselben liegt, einfach und
offen zugesteht, daß sie es nicht weiß. Dasselbe gilt von der Rechts-, Reli-
gions- und Kunstphilosophie.

Nach allen drei Richtungen, die wir hier charakteristrt haben, liegen uns
in diesem Augenblick sehr bedeutende Versuche vor, die in ihrem Detail zu
prüfen hier nicht der Ort ist; wir begnügen uns damit, auf die Stelle hinzu¬
weisen, die ihnen bei dem zu erwartenden Fortschritt der Philosophie im All¬
gemeinen zukommt.


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[0384] Haupt bewiesen und erklärt werden kann, durch sich selbst und nicht durch ein von außen hereingetragenes Princip des Denkens." Es ist aber ein Irr¬ thum, wenn Rückert annimmt,' die frühere Philosophie der Geschichte, höchstens Fichte ausgenommen, der, wie schon oben bemerkt, sich um die sonstige Wissen¬ schaft überhaupt gar nicht kümmerte, hätte nicht dasselbe gewollt. Hegel sagt in der Einleitung zu seiner Philosophie der Geschichte etwas ganz Aehnliches, wenn er auch freilich seinem Versprechen ebensowenig treu bleibt, als, wie wir später zeigen werden, der Verfasser des vorliegenden Werks, der folgender¬ maßen fortfährt: „Ich möchte nicht, daß von diesem Buche gesagt werde, es solle eine Philosophie der Geschichte sein, aber es würde mich freuen, wenn man finden könnte, daß die große Förderung, welche die geschichtlichen Stu¬ dien durch die moderne Philosophie erhalten haben, auch in diesem Buche be¬ merkbar sei. Eine Philosophie der Geschichte soll es schön deshalb nicht sein, weil es auf der Boraussetzung ruht und diese Voraussetzung auch überall an dem gehörigen Orte ausdrücklich bekennt, daß der innere Zusammenhang der geschichtlichen Erscheinungen durch eine Menge unerklärter und unerklärbarer Phänomene unterbrochen ist, und daß die Gesammterscheinung der menschlichen Entwicklung in der Geschichte aus einem an sich dunkeln und undurchdring¬ lichen Hintergrunds hervortritt." Es ist das eine sehr wichtige Bemerkung, die das Wesen der Sache trifft, und die, wenn überhaupt in empirischen Dingen von einer Construction ii priori die Rede sein könnte, allein schon hinreichen würde, nachzuweisen, daß in der Geschichte davon nicht die Rede sein kann. Man mag mit Hegel die Geschichte als die Entwicklung der Freiheit bezeichnen, jedenfalls ist die Freiheit nur das Object, nicht das Subject dieser Entwicklung, denn'der Träger der Freiheit, der Mensch oder die Menschheit, hat die Ge¬ schichte nicht gemacht, sondern er ist unter ganz bestimmten, aus dem Begriff der Menschheit nicht herzuleitenden Naturbedingungen das geworden, was er werden konnte. Es bleibt in der Construction der Geschichte ein irrationeller Rest. Diese Wahrheit anzuerkennen, ist grade die Philosophie der Geschichte am meisten berufen, da sie sich sonst in leere Träumereien verflüchtigen würde. Sie wird, um den alten Ausdruck beizubehalten, die Transscendenz nur dann vermeiden, wenn sie genau die Grenze, feststeckt, innerhalb deren sie mit ihren Mitteln ausreicht, und von dem, was jenseits derselben liegt, einfach und offen zugesteht, daß sie es nicht weiß. Dasselbe gilt von der Rechts-, Reli- gions- und Kunstphilosophie. Nach allen drei Richtungen, die wir hier charakteristrt haben, liegen uns in diesem Augenblick sehr bedeutende Versuche vor, die in ihrem Detail zu prüfen hier nicht der Ort ist; wir begnügen uns damit, auf die Stelle hinzu¬ weisen, die ihnen bei dem zu erwartenden Fortschritt der Philosophie im All¬ gemeinen zukommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/384>, abgerufen am 23.07.2024.