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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Berufnen wie von Unberufnen. Denn eine Periode philosophischer Producti-
vität hat ihr Kennzeichen nicht blos darin, daß sich eine ungewöhnliche Zahl
begabter Männer vorfindet, die für diese Richtung ebensoviel Talent als
Neigung mitbringen, sondern auch darin, daß alle Welt sich in gutem Glauben
ihren Eingebungen überläßt, fest davon überzeugt, daß dem Muthigen die
Welt gehört. Es gehört eine ganz außerordentliche Unbefangenheit des Denkens
dazu, nicht blos für die Schüler, sondern auch für die Lehrer, um auf die
Weise zu speculiren, wie zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland spe-
culirt wurde. Es erweckt in uns einen gewissen Neid, wenn wir z. B. in
Fichtes Schriften psychologisch dem Gedankengang dieses nicht blos ehrlichen,
sondern auch wissenschaftlich hochgebildeten Mannes folgen und die Kühnheit
der Gedankensprünge ermessen, die dazu gehört, ein solches System zu Stande
zu bringen. Es ist nicht grade ein Uebermaß von Klugheit, das uns heute
vor ähnlichen Deductionen bewahrt, vielmehr ein Mißtrauen gegen unsere
eignen Gedanken, das mir einem gewissen Gefühl von Schwäche verbunden ist.

Wenn daher die Materialisten und Empiriker jeder Gattung in diesem
Augenblick über die Niederlage der Philosophie einen Triumphgesang anstimmen,
so sollten sie doch erst genauer ihre eigne Thätigkeit untersuchen, ob sie nicht
die nämlichen Sünden begehen, wie ihre Vorgänger, und mit einer viel ge¬
ringern Berechtigung. Denn der alte Spruch des Cartesius, der aus dem
Denken das Sein herleitet, besteht noch immer in voller Kraft, und nirgend
zeigt sich das so lebhaft, als in dem wissenschaftlichen Treiben, das mit dem
niedrigsten Handwerk zusammenfällt, wenn es nicht vom Denken > ausgeht, und
vom Denken unablässig geleitet wird. Wissenschaftliches und methodisches
Denken sagt aber das Nämliche, und ein methodisches Denken findet nur
dann statt, wenn man sich der Methode bewußt wird d. h. wenn man philo-
sophirt. Ohne Philosophie gibt es auf die Dauer keine Wissenschaft; eine
Behauptung, die gewiß weniger Anfechtungen unterworfen ist, als die andre,
daß es ohne Religion keine Moral gibt. Die Kunst kaun bestehen, ohne daß
der Künstler über die Art und Weise, wie er schafft, Reflexionen anstellt; die
Wissenschaft kann es nicht, und ein Zeitalter, welches einen so überwiegend
wissenschaftlichen Charakter hat, wie das unsrige, muß nothwendigerweise wieder
zur Philosophie zurückkehren. Freilich wird die neue Philosophie sich hüten
müssen, in die Fehler der alten zu verfallen, weil sonst wiederum die Gefahr
eintritt, daß ein scheinbar rascher Sieg in dem nächsten Augenblick wieder ver¬
loren geht, und daß man mit Erstaunen wahrnimmt, man habe nur mit
Schatten gekämpft.

Unter vielen andern Fehlern, welche die deutsche Philosophie namentlich
in der Zeit Fichtes, Schellings und Hegels begangen hat, treten am auffal¬
lendsten zwei hervor.


Berufnen wie von Unberufnen. Denn eine Periode philosophischer Producti-
vität hat ihr Kennzeichen nicht blos darin, daß sich eine ungewöhnliche Zahl
begabter Männer vorfindet, die für diese Richtung ebensoviel Talent als
Neigung mitbringen, sondern auch darin, daß alle Welt sich in gutem Glauben
ihren Eingebungen überläßt, fest davon überzeugt, daß dem Muthigen die
Welt gehört. Es gehört eine ganz außerordentliche Unbefangenheit des Denkens
dazu, nicht blos für die Schüler, sondern auch für die Lehrer, um auf die
Weise zu speculiren, wie zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland spe-
culirt wurde. Es erweckt in uns einen gewissen Neid, wenn wir z. B. in
Fichtes Schriften psychologisch dem Gedankengang dieses nicht blos ehrlichen,
sondern auch wissenschaftlich hochgebildeten Mannes folgen und die Kühnheit
der Gedankensprünge ermessen, die dazu gehört, ein solches System zu Stande
zu bringen. Es ist nicht grade ein Uebermaß von Klugheit, das uns heute
vor ähnlichen Deductionen bewahrt, vielmehr ein Mißtrauen gegen unsere
eignen Gedanken, das mir einem gewissen Gefühl von Schwäche verbunden ist.

Wenn daher die Materialisten und Empiriker jeder Gattung in diesem
Augenblick über die Niederlage der Philosophie einen Triumphgesang anstimmen,
so sollten sie doch erst genauer ihre eigne Thätigkeit untersuchen, ob sie nicht
die nämlichen Sünden begehen, wie ihre Vorgänger, und mit einer viel ge¬
ringern Berechtigung. Denn der alte Spruch des Cartesius, der aus dem
Denken das Sein herleitet, besteht noch immer in voller Kraft, und nirgend
zeigt sich das so lebhaft, als in dem wissenschaftlichen Treiben, das mit dem
niedrigsten Handwerk zusammenfällt, wenn es nicht vom Denken > ausgeht, und
vom Denken unablässig geleitet wird. Wissenschaftliches und methodisches
Denken sagt aber das Nämliche, und ein methodisches Denken findet nur
dann statt, wenn man sich der Methode bewußt wird d. h. wenn man philo-
sophirt. Ohne Philosophie gibt es auf die Dauer keine Wissenschaft; eine
Behauptung, die gewiß weniger Anfechtungen unterworfen ist, als die andre,
daß es ohne Religion keine Moral gibt. Die Kunst kaun bestehen, ohne daß
der Künstler über die Art und Weise, wie er schafft, Reflexionen anstellt; die
Wissenschaft kann es nicht, und ein Zeitalter, welches einen so überwiegend
wissenschaftlichen Charakter hat, wie das unsrige, muß nothwendigerweise wieder
zur Philosophie zurückkehren. Freilich wird die neue Philosophie sich hüten
müssen, in die Fehler der alten zu verfallen, weil sonst wiederum die Gefahr
eintritt, daß ein scheinbar rascher Sieg in dem nächsten Augenblick wieder ver¬
loren geht, und daß man mit Erstaunen wahrnimmt, man habe nur mit
Schatten gekämpft.

Unter vielen andern Fehlern, welche die deutsche Philosophie namentlich
in der Zeit Fichtes, Schellings und Hegels begangen hat, treten am auffal¬
lendsten zwei hervor.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/380>, abgerufen am 23.07.2024.