Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in der Art der Bevölkerung selbst. Namentlich die Bewohner des Vogelsbergs
sind es seit Jahrhunderten gewohnt gewesen, mit einer höchst ursprünglichen
und kunstlosen Industrie auf weiten Wanderungen ein relativ behagliches Aus¬
kommen zu finden. Die ganze Strömung der modernen Zeit hat aber diesen
Hausirhandel mit Besen und Holzarbeiten nahezu antiquirt; die Verhältnisse
der letzten Jahre haben ferner durch bekannte Umstände den Wandererwerb der
Männer als Erntearbeiter bedeutend verringert. Dennoch konnte' steh die zähe
Gebirgsart oder auch eine faule Schlaffheit nicht entschließen, sonstigen bei
Eisenbahnen, Industrieanlagen in. gebotenen Arbeiten ernsthaft nachzugehen.
Je mehr sich die Nachrichten von der Noth in Oberhessen verbreiteten, je mehr
es bis zu einem gewissen Punkte Mode wurde, die Bewohner des Vogelsberges
mit milden Gaben zu unterstützen, desto sorgloser oder bequemer verließen sie
sich auf die offenen Hände des, wohlhabenden Rhein- und Mainthales. Erst
als die letzten Theurungöjahre der Mildthätigkeit hemmend in den Weg traten,
entstand im oberhessischen Gebirge jene furchtbare Noth, welcher am wirksamsten
durch Beförderung der Auswanderung begegnet werden zu können schien. Aber
in Wahrheit blos schien. Denn trotz der Lichtung der an sich sparsamen
Bevölkerung, welche strichweise fast einer Entvölkerung gleichkam, sind dadurch
die materiellen Verhältnisse nicht im geringsten verbessert. Auch der Rest
bleibt in derselben schlaffen Verdumpfung, welche die Noth der verflossenen
Jahre zum Theil erschuf, zum Theil zur Folge hatte. Aber während nunmehr
die Mittel zur weitern Unterstützung der Auswanderung sich ziemlich erschöpften,
verhindern solche Beobachtungen neben dem Mangel genügender Communi-
cationswege, daß industrielle Unternehmen ihre Werkstätten nach diesen Ge¬
genden verlegen. Freilich könnte der niedrige Arbeitslohn locken; allein selbst
bei einer Erhöhung desselben würden die anstelligen und brauchbaren Arbeiter
für eine neue Erwerbsart nur schwer zu finden sein.

Diese zähe Unbeweglichkeit der südwestdeutschen Bergbewohner, wenn eS
sich darum handelt, überlebte Erwerbszweige aufzugeben, oder doch nach modernen
Erfordernissen umzugestalten und daraus weiter fortzubauen, läßt sich überhaupt
vom Vogelsberg und den suldaer Höhen über den Spessart gegen das Main-
Plateau des Odenwaldes und in dessen Hochthäler hinein als Hauptursache
der weitverbreiteten Armuth, und des Zurückbleibens gegen die Culturfort-
schritle der nächsten Nachbarschaft nicht verkennen. Vielleicht fehlt auch die
rechte Anleitung dazu, oder in den Kreisen, welche zu dieser berufen sind, die
rechte Consequenz und Energie. Im badischen und würtembergischen Schwarz¬
walde, wie auf der schwäbischen Alp erkennt man dieselbe Grundlage des,
Volkscharakters. Allein dies zähe Bsharren aus dem Althergebrachten liegt
nicht ursprünglich im ethnographischen Naturell, sondern wuchs mehr durch die


in der Art der Bevölkerung selbst. Namentlich die Bewohner des Vogelsbergs
sind es seit Jahrhunderten gewohnt gewesen, mit einer höchst ursprünglichen
und kunstlosen Industrie auf weiten Wanderungen ein relativ behagliches Aus¬
kommen zu finden. Die ganze Strömung der modernen Zeit hat aber diesen
Hausirhandel mit Besen und Holzarbeiten nahezu antiquirt; die Verhältnisse
der letzten Jahre haben ferner durch bekannte Umstände den Wandererwerb der
Männer als Erntearbeiter bedeutend verringert. Dennoch konnte' steh die zähe
Gebirgsart oder auch eine faule Schlaffheit nicht entschließen, sonstigen bei
Eisenbahnen, Industrieanlagen in. gebotenen Arbeiten ernsthaft nachzugehen.
Je mehr sich die Nachrichten von der Noth in Oberhessen verbreiteten, je mehr
es bis zu einem gewissen Punkte Mode wurde, die Bewohner des Vogelsberges
mit milden Gaben zu unterstützen, desto sorgloser oder bequemer verließen sie
sich auf die offenen Hände des, wohlhabenden Rhein- und Mainthales. Erst
als die letzten Theurungöjahre der Mildthätigkeit hemmend in den Weg traten,
entstand im oberhessischen Gebirge jene furchtbare Noth, welcher am wirksamsten
durch Beförderung der Auswanderung begegnet werden zu können schien. Aber
in Wahrheit blos schien. Denn trotz der Lichtung der an sich sparsamen
Bevölkerung, welche strichweise fast einer Entvölkerung gleichkam, sind dadurch
die materiellen Verhältnisse nicht im geringsten verbessert. Auch der Rest
bleibt in derselben schlaffen Verdumpfung, welche die Noth der verflossenen
Jahre zum Theil erschuf, zum Theil zur Folge hatte. Aber während nunmehr
die Mittel zur weitern Unterstützung der Auswanderung sich ziemlich erschöpften,
verhindern solche Beobachtungen neben dem Mangel genügender Communi-
cationswege, daß industrielle Unternehmen ihre Werkstätten nach diesen Ge¬
genden verlegen. Freilich könnte der niedrige Arbeitslohn locken; allein selbst
bei einer Erhöhung desselben würden die anstelligen und brauchbaren Arbeiter
für eine neue Erwerbsart nur schwer zu finden sein.

Diese zähe Unbeweglichkeit der südwestdeutschen Bergbewohner, wenn eS
sich darum handelt, überlebte Erwerbszweige aufzugeben, oder doch nach modernen
Erfordernissen umzugestalten und daraus weiter fortzubauen, läßt sich überhaupt
vom Vogelsberg und den suldaer Höhen über den Spessart gegen das Main-
Plateau des Odenwaldes und in dessen Hochthäler hinein als Hauptursache
der weitverbreiteten Armuth, und des Zurückbleibens gegen die Culturfort-
schritle der nächsten Nachbarschaft nicht verkennen. Vielleicht fehlt auch die
rechte Anleitung dazu, oder in den Kreisen, welche zu dieser berufen sind, die
rechte Consequenz und Energie. Im badischen und würtembergischen Schwarz¬
walde, wie auf der schwäbischen Alp erkennt man dieselbe Grundlage des,
Volkscharakters. Allein dies zähe Bsharren aus dem Althergebrachten liegt
nicht ursprünglich im ethnographischen Naturell, sondern wuchs mehr durch die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0037" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/102632"/>
            <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> in der Art der Bevölkerung selbst. Namentlich die Bewohner des Vogelsbergs<lb/>
sind es seit Jahrhunderten gewohnt gewesen, mit einer höchst ursprünglichen<lb/>
und kunstlosen Industrie auf weiten Wanderungen ein relativ behagliches Aus¬<lb/>
kommen zu finden. Die ganze Strömung der modernen Zeit hat aber diesen<lb/>
Hausirhandel mit Besen und Holzarbeiten nahezu antiquirt; die Verhältnisse<lb/>
der letzten Jahre haben ferner durch bekannte Umstände den Wandererwerb der<lb/>
Männer als Erntearbeiter bedeutend verringert. Dennoch konnte' steh die zähe<lb/>
Gebirgsart oder auch eine faule Schlaffheit nicht entschließen, sonstigen bei<lb/>
Eisenbahnen, Industrieanlagen in. gebotenen Arbeiten ernsthaft nachzugehen.<lb/>
Je mehr sich die Nachrichten von der Noth in Oberhessen verbreiteten, je mehr<lb/>
es bis zu einem gewissen Punkte Mode wurde, die Bewohner des Vogelsberges<lb/>
mit milden Gaben zu unterstützen, desto sorgloser oder bequemer verließen sie<lb/>
sich auf die offenen Hände des, wohlhabenden Rhein- und Mainthales. Erst<lb/>
als die letzten Theurungöjahre der Mildthätigkeit hemmend in den Weg traten,<lb/>
entstand im oberhessischen Gebirge jene furchtbare Noth, welcher am wirksamsten<lb/>
durch Beförderung der Auswanderung begegnet werden zu können schien. Aber<lb/>
in Wahrheit blos schien. Denn trotz der Lichtung der an sich sparsamen<lb/>
Bevölkerung, welche strichweise fast einer Entvölkerung gleichkam, sind dadurch<lb/>
die materiellen Verhältnisse nicht im geringsten verbessert. Auch der Rest<lb/>
bleibt in derselben schlaffen Verdumpfung, welche die Noth der verflossenen<lb/>
Jahre zum Theil erschuf, zum Theil zur Folge hatte. Aber während nunmehr<lb/>
die Mittel zur weitern Unterstützung der Auswanderung sich ziemlich erschöpften,<lb/>
verhindern solche Beobachtungen neben dem Mangel genügender Communi-<lb/>
cationswege, daß industrielle Unternehmen ihre Werkstätten nach diesen Ge¬<lb/>
genden verlegen. Freilich könnte der niedrige Arbeitslohn locken; allein selbst<lb/>
bei einer Erhöhung desselben würden die anstelligen und brauchbaren Arbeiter<lb/>
für eine neue Erwerbsart nur schwer zu finden sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_81" next="#ID_82"> Diese zähe Unbeweglichkeit der südwestdeutschen Bergbewohner, wenn eS<lb/>
sich darum handelt, überlebte Erwerbszweige aufzugeben, oder doch nach modernen<lb/>
Erfordernissen umzugestalten und daraus weiter fortzubauen, läßt sich überhaupt<lb/>
vom Vogelsberg und den suldaer Höhen über den Spessart gegen das Main-<lb/>
Plateau des Odenwaldes und in dessen Hochthäler hinein als Hauptursache<lb/>
der weitverbreiteten Armuth, und des Zurückbleibens gegen die Culturfort-<lb/>
schritle der nächsten Nachbarschaft nicht verkennen. Vielleicht fehlt auch die<lb/>
rechte Anleitung dazu, oder in den Kreisen, welche zu dieser berufen sind, die<lb/>
rechte Consequenz und Energie. Im badischen und würtembergischen Schwarz¬<lb/>
walde, wie auf der schwäbischen Alp erkennt man dieselbe Grundlage des,<lb/>
Volkscharakters. Allein dies zähe Bsharren aus dem Althergebrachten liegt<lb/>
nicht ursprünglich im ethnographischen Naturell, sondern wuchs mehr durch die</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] in der Art der Bevölkerung selbst. Namentlich die Bewohner des Vogelsbergs sind es seit Jahrhunderten gewohnt gewesen, mit einer höchst ursprünglichen und kunstlosen Industrie auf weiten Wanderungen ein relativ behagliches Aus¬ kommen zu finden. Die ganze Strömung der modernen Zeit hat aber diesen Hausirhandel mit Besen und Holzarbeiten nahezu antiquirt; die Verhältnisse der letzten Jahre haben ferner durch bekannte Umstände den Wandererwerb der Männer als Erntearbeiter bedeutend verringert. Dennoch konnte' steh die zähe Gebirgsart oder auch eine faule Schlaffheit nicht entschließen, sonstigen bei Eisenbahnen, Industrieanlagen in. gebotenen Arbeiten ernsthaft nachzugehen. Je mehr sich die Nachrichten von der Noth in Oberhessen verbreiteten, je mehr es bis zu einem gewissen Punkte Mode wurde, die Bewohner des Vogelsberges mit milden Gaben zu unterstützen, desto sorgloser oder bequemer verließen sie sich auf die offenen Hände des, wohlhabenden Rhein- und Mainthales. Erst als die letzten Theurungöjahre der Mildthätigkeit hemmend in den Weg traten, entstand im oberhessischen Gebirge jene furchtbare Noth, welcher am wirksamsten durch Beförderung der Auswanderung begegnet werden zu können schien. Aber in Wahrheit blos schien. Denn trotz der Lichtung der an sich sparsamen Bevölkerung, welche strichweise fast einer Entvölkerung gleichkam, sind dadurch die materiellen Verhältnisse nicht im geringsten verbessert. Auch der Rest bleibt in derselben schlaffen Verdumpfung, welche die Noth der verflossenen Jahre zum Theil erschuf, zum Theil zur Folge hatte. Aber während nunmehr die Mittel zur weitern Unterstützung der Auswanderung sich ziemlich erschöpften, verhindern solche Beobachtungen neben dem Mangel genügender Communi- cationswege, daß industrielle Unternehmen ihre Werkstätten nach diesen Ge¬ genden verlegen. Freilich könnte der niedrige Arbeitslohn locken; allein selbst bei einer Erhöhung desselben würden die anstelligen und brauchbaren Arbeiter für eine neue Erwerbsart nur schwer zu finden sein. Diese zähe Unbeweglichkeit der südwestdeutschen Bergbewohner, wenn eS sich darum handelt, überlebte Erwerbszweige aufzugeben, oder doch nach modernen Erfordernissen umzugestalten und daraus weiter fortzubauen, läßt sich überhaupt vom Vogelsberg und den suldaer Höhen über den Spessart gegen das Main- Plateau des Odenwaldes und in dessen Hochthäler hinein als Hauptursache der weitverbreiteten Armuth, und des Zurückbleibens gegen die Culturfort- schritle der nächsten Nachbarschaft nicht verkennen. Vielleicht fehlt auch die rechte Anleitung dazu, oder in den Kreisen, welche zu dieser berufen sind, die rechte Consequenz und Energie. Im badischen und würtembergischen Schwarz¬ walde, wie auf der schwäbischen Alp erkennt man dieselbe Grundlage des, Volkscharakters. Allein dies zähe Bsharren aus dem Althergebrachten liegt nicht ursprünglich im ethnographischen Naturell, sondern wuchs mehr durch die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/37
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/37>, abgerufen am 23.07.2024.