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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Mann möglich sein, ein eignes Haus zu haben, und auch in diesem Fall
wird er genöthigt sein, trotz aller Anfechtungen der Gothik gegen die Polizei
sich nach den Bedürfnissen seiner Mitbürger zu richten. In einer großen
Stadt ist z. B. auf den Straßen ein fortwährendes Gedränge und es wird
sehr viel darin gefahren; auch der reiche Privatmann wird sich also entschließen
müssen, sein Haus so zu bauen, daß die Passage nicht gehindert wird. Wenn
also enge und krumme Straßen auch wirklich malerischer sein sollten (aber
doch wol nur von der Vogelperspective aus?), so würde doch das Publicum
und dessen Organ, die Polizei, berechtigt sein, nach breiten und geraden Stra¬
ßen zu verlangen, denn die Straßen sind nicht sür den reisenden. Maler, son¬
dern sür die Bewohner der Stadt. Aber die Physiognomie der Stadt wird
auch keineswegs durch einzelne geschmackvolle Häuser reicher Privatleute be¬
stimmt, sondern durch die Masse der Häuser; und da diese zum großen Theil
aus Miethswohnungen bestehen und bestehen müssen, so würden sich die Go-
then ein großes Verdienst erwerben, wenn sie angeben wollten, wie diese auf
Speculation gebauten Häuser sich zugleich wohlfeil, wohnlich und anmuthig
einrichten lassen. Daß man Küche, Schlafzimmer, Arbeitszimmer u. s. w. in
ein Local verlegt, ist im 19. Jahrhundert nicht zu verlangen. Licht und Lust
will man auch haben, und dies Verlangen dürste sogar ein Fortschritt in
unserer Cultur sein. Die geradlinige Fensterreihe, die langen Corridore :c.
wird man gern aufgeben, wenn man nur eine Belehrung darüber empfängt,
was^man dadurch gewinnt. Freilich ist es eine sehr thörichte Anforderung der
Akademiker, daß sich die Zimmer nach der äußern Symmetrie der Fenster :c.
richten sollen; aber noch viel thörichter ist es von den Freunden des Mittel¬
alters, wenn sie unnütze Treppen :c. anbringen, um von außen her den Ein¬
druck des Unsymmetrischen zu machen. Daß sie bisher in ihrer Praxis den
Anforderungen der Zweckmäßigkeit nicht gerecht geworden sind, zeigt schon der
geringe Erfolg ihrer einzelnen Versuche. Fast in jeder größern Stadt findet
man einzelne moderne Hänser im sogenannten gothischen Stil; sie erregen die
allgemeine Aufmerksamkeit, und das neuerungsdurstige Publicum ist sehr ge¬
neigt, sich für sie zu begeistern, da trotz aller Versicherungen des Gegentheils
die Originalität bei uns höher im Cours steht, als die Uniformität; aber die
Thatsache ist da, man ahmt jene Häuser nicht nach, sondern bleibt lieber bei
der Kaserne, so sehr man von der Unschönheit derselben überzeugt ist, weil sie
doch dem praktischen Zweck noch immer am besten entspricht.

Und dabei kommt noch ein Umstand in Betracht, auf den wir schon mehr¬
mals hingewiesen haben. Die .Freunde der mittelalterlichen Ballkunst leiden
an einer Monomanie, nämlich an der firen Idee der alleinseligmachenden
Kirche. ES ist ihnen nicht möglich, eine neue Thür- oder Fensterform zu em¬
pfehlen, ohne gleichzeitig ihre Ueberzeugung auszusprechen, daß Deutschland


Mann möglich sein, ein eignes Haus zu haben, und auch in diesem Fall
wird er genöthigt sein, trotz aller Anfechtungen der Gothik gegen die Polizei
sich nach den Bedürfnissen seiner Mitbürger zu richten. In einer großen
Stadt ist z. B. auf den Straßen ein fortwährendes Gedränge und es wird
sehr viel darin gefahren; auch der reiche Privatmann wird sich also entschließen
müssen, sein Haus so zu bauen, daß die Passage nicht gehindert wird. Wenn
also enge und krumme Straßen auch wirklich malerischer sein sollten (aber
doch wol nur von der Vogelperspective aus?), so würde doch das Publicum
und dessen Organ, die Polizei, berechtigt sein, nach breiten und geraden Stra¬
ßen zu verlangen, denn die Straßen sind nicht sür den reisenden. Maler, son¬
dern sür die Bewohner der Stadt. Aber die Physiognomie der Stadt wird
auch keineswegs durch einzelne geschmackvolle Häuser reicher Privatleute be¬
stimmt, sondern durch die Masse der Häuser; und da diese zum großen Theil
aus Miethswohnungen bestehen und bestehen müssen, so würden sich die Go-
then ein großes Verdienst erwerben, wenn sie angeben wollten, wie diese auf
Speculation gebauten Häuser sich zugleich wohlfeil, wohnlich und anmuthig
einrichten lassen. Daß man Küche, Schlafzimmer, Arbeitszimmer u. s. w. in
ein Local verlegt, ist im 19. Jahrhundert nicht zu verlangen. Licht und Lust
will man auch haben, und dies Verlangen dürste sogar ein Fortschritt in
unserer Cultur sein. Die geradlinige Fensterreihe, die langen Corridore :c.
wird man gern aufgeben, wenn man nur eine Belehrung darüber empfängt,
was^man dadurch gewinnt. Freilich ist es eine sehr thörichte Anforderung der
Akademiker, daß sich die Zimmer nach der äußern Symmetrie der Fenster :c.
richten sollen; aber noch viel thörichter ist es von den Freunden des Mittel¬
alters, wenn sie unnütze Treppen :c. anbringen, um von außen her den Ein¬
druck des Unsymmetrischen zu machen. Daß sie bisher in ihrer Praxis den
Anforderungen der Zweckmäßigkeit nicht gerecht geworden sind, zeigt schon der
geringe Erfolg ihrer einzelnen Versuche. Fast in jeder größern Stadt findet
man einzelne moderne Hänser im sogenannten gothischen Stil; sie erregen die
allgemeine Aufmerksamkeit, und das neuerungsdurstige Publicum ist sehr ge¬
neigt, sich für sie zu begeistern, da trotz aller Versicherungen des Gegentheils
die Originalität bei uns höher im Cours steht, als die Uniformität; aber die
Thatsache ist da, man ahmt jene Häuser nicht nach, sondern bleibt lieber bei
der Kaserne, so sehr man von der Unschönheit derselben überzeugt ist, weil sie
doch dem praktischen Zweck noch immer am besten entspricht.

Und dabei kommt noch ein Umstand in Betracht, auf den wir schon mehr¬
mals hingewiesen haben. Die .Freunde der mittelalterlichen Ballkunst leiden
an einer Monomanie, nämlich an der firen Idee der alleinseligmachenden
Kirche. ES ist ihnen nicht möglich, eine neue Thür- oder Fensterform zu em¬
pfehlen, ohne gleichzeitig ihre Ueberzeugung auszusprechen, daß Deutschland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/319>, abgerufen am 03.07.2024.