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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Volksvertretung gemeint sei. An Schriften, welche Wünsche und Befürch¬
tungen in dieser Hinsicht aussprachen, oder die staatsrechtlichen Theorien des
17. und 18. Jahrhunderts weiter entwickelten, hat es seitdem natürlich nicht
gefehlt. Doch waren sie alle mehr oder minder statistisch-politischen Inhalts.
Die positiv juristischen Seiten der staatsrechtlichen Frage mußten so lange un¬
berücksichtigt bleiben, bis die Wünsche, Ansprüche und Doctrinen in fester Form
Wirklichkeit gewonnen hatten. Als das erst in einigen Staaten geschehen
war, sanden sich bald juristische Bearbeitungen des allgemeinen Staatsrechts.
Monographien in diesem Gebiet aber sind noch immer seltene Erscheinungen,
eine rein sachmäßige Zeitschrift für Staatsrecht, wie es ähnliche doch für an¬
dere juristische Disciplinen gibt, eristirt gar nicht, und bis vor wenigen
Monaten hatten nur wenige Staaten ausführliche Darstellungen ihres Par-
ticularstaatsrechts. Der Staat, für dessen politisches Leben wir von jeher das
meiste Interesse gehabt haben, sott sie erst durch dir neue Arbeit L. v. Roennes
erhalten, deren Resultat uns in einer Lieferung vorliegt.

Preußen hatte vor nun fast fünfzig Jahren unter allen deutschen Staaten
die meiste Aussicht auf eine Verfassung, die dem Gesammtinteresse richtigen
Ausdruck, der Einzelkraft freien Spielraum geben sollte. Hier hatte das
Schicksal seine schwersten Schläge geführt und in einer langen Reihe demü¬
thigender Ereignisse die Lehre nahegelegt, daß die Größe eines Staats mit
ihrem Schöpfer zu Grabe geht, wenn sie aus keiner andern Grundlage ruht,
als auf dessen Genie und Glück. Diese Grundlage sollte in der Nation selbst
gesucht werden, in ihrer Kraft und opferfreudigen Liebe zum Vaterland. Das
war der Plan Steins und aller der bedeutenden Männer, welche damals an
der Wiedergeburt Preußens arbeiteten. Kaum waren die ersten Schritte zu
seiner Verwirklichung geschehen, so zeigte sich schon der glänzende Erfolg: die
innerlich befreite Kraft der Völker errang sich die äußere Freiheit und gab den
Staaten die Möglichkeit selbstständiger Entwicklung zurück. Man hätte glauben
!oller, die Regierungen würden die Bahn nicht mehr verlassen, auf der sie
so schnell ein großes Ziel erreicht hatten, der sie, genau besehen, sogar ihre
Existenz verdankten. In Preußen wenigstens verließ man sie nicht so bald.
So sehr Friedrich Wilhelm III. auch ungewöhnlichen Menschen und unge¬
wöhnlichen Handlungen abgeneigt war -- die erste Entlassung Steins und das
erste persönliche Begegnen mit Aork nach der Kapitulation von Tauroggen
sind recht deutliche Belege dafür -- waren doch die Vorschläge der preußischen
Gesandten aus den wiener Konferenzen und das Edict vom 22. Mai 1815 so
gehalten, wie man es nach den vorausgehenden Verordnungrn und Erlassen
(K. O. vom 10. Juli -1809; Edler vom 27. October 1810) erwarten durste.
Noch 1818 erklärte es der König für einen Frevel, an seinen Zusagen zu
Zweifeln, als die Rheinländer ihn durch Adressen und Anreden bei seiner


Volksvertretung gemeint sei. An Schriften, welche Wünsche und Befürch¬
tungen in dieser Hinsicht aussprachen, oder die staatsrechtlichen Theorien des
17. und 18. Jahrhunderts weiter entwickelten, hat es seitdem natürlich nicht
gefehlt. Doch waren sie alle mehr oder minder statistisch-politischen Inhalts.
Die positiv juristischen Seiten der staatsrechtlichen Frage mußten so lange un¬
berücksichtigt bleiben, bis die Wünsche, Ansprüche und Doctrinen in fester Form
Wirklichkeit gewonnen hatten. Als das erst in einigen Staaten geschehen
war, sanden sich bald juristische Bearbeitungen des allgemeinen Staatsrechts.
Monographien in diesem Gebiet aber sind noch immer seltene Erscheinungen,
eine rein sachmäßige Zeitschrift für Staatsrecht, wie es ähnliche doch für an¬
dere juristische Disciplinen gibt, eristirt gar nicht, und bis vor wenigen
Monaten hatten nur wenige Staaten ausführliche Darstellungen ihres Par-
ticularstaatsrechts. Der Staat, für dessen politisches Leben wir von jeher das
meiste Interesse gehabt haben, sott sie erst durch dir neue Arbeit L. v. Roennes
erhalten, deren Resultat uns in einer Lieferung vorliegt.

Preußen hatte vor nun fast fünfzig Jahren unter allen deutschen Staaten
die meiste Aussicht auf eine Verfassung, die dem Gesammtinteresse richtigen
Ausdruck, der Einzelkraft freien Spielraum geben sollte. Hier hatte das
Schicksal seine schwersten Schläge geführt und in einer langen Reihe demü¬
thigender Ereignisse die Lehre nahegelegt, daß die Größe eines Staats mit
ihrem Schöpfer zu Grabe geht, wenn sie aus keiner andern Grundlage ruht,
als auf dessen Genie und Glück. Diese Grundlage sollte in der Nation selbst
gesucht werden, in ihrer Kraft und opferfreudigen Liebe zum Vaterland. Das
war der Plan Steins und aller der bedeutenden Männer, welche damals an
der Wiedergeburt Preußens arbeiteten. Kaum waren die ersten Schritte zu
seiner Verwirklichung geschehen, so zeigte sich schon der glänzende Erfolg: die
innerlich befreite Kraft der Völker errang sich die äußere Freiheit und gab den
Staaten die Möglichkeit selbstständiger Entwicklung zurück. Man hätte glauben
!oller, die Regierungen würden die Bahn nicht mehr verlassen, auf der sie
so schnell ein großes Ziel erreicht hatten, der sie, genau besehen, sogar ihre
Existenz verdankten. In Preußen wenigstens verließ man sie nicht so bald.
So sehr Friedrich Wilhelm III. auch ungewöhnlichen Menschen und unge¬
wöhnlichen Handlungen abgeneigt war — die erste Entlassung Steins und das
erste persönliche Begegnen mit Aork nach der Kapitulation von Tauroggen
sind recht deutliche Belege dafür — waren doch die Vorschläge der preußischen
Gesandten aus den wiener Konferenzen und das Edict vom 22. Mai 1815 so
gehalten, wie man es nach den vorausgehenden Verordnungrn und Erlassen
(K. O. vom 10. Juli -1809; Edler vom 27. October 1810) erwarten durste.
Noch 1818 erklärte es der König für einen Frevel, an seinen Zusagen zu
Zweifeln, als die Rheinländer ihn durch Adressen und Anreden bei seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/311>, abgerufen am 23.07.2024.