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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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ausschließen und nichts als die wirkenden Ursachen der Naturerscheinung suchen.
-- Die erste Aufgabe der Erfahrung ist, die Thatsachen der Natur festzustellen;
aber erst die Erkenntniß der Ursachen ist wirklich Erkenntniß, denn alles wahre
Wissen ist Wissen durch Gründe. Jede Naturerscheinung ist unter gewissen
Bedingungen gegeben. Es handelt sich darum, unter den gegebenen diejenigen
zu erkennen, welche zur Erscheinung nothwendig und wesentlich sind, ohne
welche die fragliche Erscheinung nicht stattfinden könnte. Die Lösung erfolgt
durch die Vergleichung vieler ähnlichen Fälle, und zwar muß diese Vergleichung
in doppelter Rücksicht angestellt werden. Einmal vergleiche man viele Fälle, in
denen dieselbe Erscheinung unter verschiedenen Bedingungen stattfindet; dann
vergleiche man mit diesen Fällen andere, wo unter ähnlichen Bedingungen
dieselbe Erscheinung nicht stattfindet, (positive und negative Instanzen). Die
sinnliche Wahrnehmung, womit die Erfahrung beginnt, befreit sich von ihren
Idolen durch das Experiment, das sie berichtigt. Der Schluß von der That¬
sache auf daS Gesetz, womit die Erfahrung.endet, befreit sich von seinen Jlzo-
len (Trugschlüssen) durch die sorgfältige Beachtung der negativen Instanzen und
deren Pergleichung mit den posüiven. Diese Vergleichung ist das zweite Erperi-
ment. Indem ich die negativen Instanzen beachte, erprobeich, ob die gefundenen
Bedingungen auch die wesentlichen und einzigen sind. Ich frage gleichsam die
Natur, ob das gefundene Gesetz wahr und stichhaltig ist? -- Zur Erfindung
wird die Erkenntniß durch die Anwendung der gefundenen Gesetze. Ist diese
Anwendung möglich, so ist die Erfindung gewiß. -- Durch diese Tendenz
unterscheidet sich die baconische Philosophie in der Form wie im Inhalt wesent¬
lich von der früheren, die sich auf die Schöpfungen der Griechen stützte.
Sie stellte Physik an Stelle der Metaphysik, die wirkenden Ursachen an Stelle
der Zwecke, die einzelnen Gegenstände an Stelle der formalen Begriffe, die
Induction an Stelle deS Syllogismus. Aus diesem bewußten Gegensatz er¬
klärt sich zugleich die scharfe Kritik der antiken Philosophie, so wie das un¬
vollkommene Urtheil über die auf der idealen Seite des Gemüths beruhende
Poesie und die unvollkommene Würdigung der geschichtlichen Unterschiede. Der
ungenügende Sinn für Geschichte und Poesie ist die schwache Seite bei Bacon.

Dagegen ist die baconische Philosophie von der größten Wichtigkeit für
.. die encyklopädische Darstellung der organisch ineinander greifenden Wissen¬
schaften. Sehr fein charakterisirt Fischer den Unterschied zwischen Bacon und
den französischen Encyklopädisten. "Bacon hatte es vorzugsweise mit Aufgaben
zu thun, die frayzösischen Encyklopädisten mit Resultaten; sie redigirten die
Acten der Philosophie, Bacon entdeckte deren Probleme. Seine Bücher über
die Vermehrung der Wissenschaften waren, wie d'Alembert sagte: eatcrlvssus
iwmLnss 6o vo qui reste ir clöLouvrii-." Und er hat nach den verschiedensten
Seiten der Wissenschaft Winke aufgestellt, die noch heute zu beherzigen sind. '


ausschließen und nichts als die wirkenden Ursachen der Naturerscheinung suchen.
— Die erste Aufgabe der Erfahrung ist, die Thatsachen der Natur festzustellen;
aber erst die Erkenntniß der Ursachen ist wirklich Erkenntniß, denn alles wahre
Wissen ist Wissen durch Gründe. Jede Naturerscheinung ist unter gewissen
Bedingungen gegeben. Es handelt sich darum, unter den gegebenen diejenigen
zu erkennen, welche zur Erscheinung nothwendig und wesentlich sind, ohne
welche die fragliche Erscheinung nicht stattfinden könnte. Die Lösung erfolgt
durch die Vergleichung vieler ähnlichen Fälle, und zwar muß diese Vergleichung
in doppelter Rücksicht angestellt werden. Einmal vergleiche man viele Fälle, in
denen dieselbe Erscheinung unter verschiedenen Bedingungen stattfindet; dann
vergleiche man mit diesen Fällen andere, wo unter ähnlichen Bedingungen
dieselbe Erscheinung nicht stattfindet, (positive und negative Instanzen). Die
sinnliche Wahrnehmung, womit die Erfahrung beginnt, befreit sich von ihren
Idolen durch das Experiment, das sie berichtigt. Der Schluß von der That¬
sache auf daS Gesetz, womit die Erfahrung.endet, befreit sich von seinen Jlzo-
len (Trugschlüssen) durch die sorgfältige Beachtung der negativen Instanzen und
deren Pergleichung mit den posüiven. Diese Vergleichung ist das zweite Erperi-
ment. Indem ich die negativen Instanzen beachte, erprobeich, ob die gefundenen
Bedingungen auch die wesentlichen und einzigen sind. Ich frage gleichsam die
Natur, ob das gefundene Gesetz wahr und stichhaltig ist? — Zur Erfindung
wird die Erkenntniß durch die Anwendung der gefundenen Gesetze. Ist diese
Anwendung möglich, so ist die Erfindung gewiß. — Durch diese Tendenz
unterscheidet sich die baconische Philosophie in der Form wie im Inhalt wesent¬
lich von der früheren, die sich auf die Schöpfungen der Griechen stützte.
Sie stellte Physik an Stelle der Metaphysik, die wirkenden Ursachen an Stelle
der Zwecke, die einzelnen Gegenstände an Stelle der formalen Begriffe, die
Induction an Stelle deS Syllogismus. Aus diesem bewußten Gegensatz er¬
klärt sich zugleich die scharfe Kritik der antiken Philosophie, so wie das un¬
vollkommene Urtheil über die auf der idealen Seite des Gemüths beruhende
Poesie und die unvollkommene Würdigung der geschichtlichen Unterschiede. Der
ungenügende Sinn für Geschichte und Poesie ist die schwache Seite bei Bacon.

Dagegen ist die baconische Philosophie von der größten Wichtigkeit für
.. die encyklopädische Darstellung der organisch ineinander greifenden Wissen¬
schaften. Sehr fein charakterisirt Fischer den Unterschied zwischen Bacon und
den französischen Encyklopädisten. „Bacon hatte es vorzugsweise mit Aufgaben
zu thun, die frayzösischen Encyklopädisten mit Resultaten; sie redigirten die
Acten der Philosophie, Bacon entdeckte deren Probleme. Seine Bücher über
die Vermehrung der Wissenschaften waren, wie d'Alembert sagte: eatcrlvssus
iwmLnss 6o vo qui reste ir clöLouvrii-." Und er hat nach den verschiedensten
Seiten der Wissenschaft Winke aufgestellt, die noch heute zu beherzigen sind. '


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/260>, abgerufen am 03.07.2024.