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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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schienenes Buch geschrieben sind, so würde das doch wol eine sehr verschwen¬
dete Mühe sein. --


Voltaire und Rousseau in ihrer socialen Bedeutung dargestellt von
Jürgen Bona Meyer, Dr. pdil.'Berlin, G. Reimer. --

Es ist sehr zweckmäßig, daß man endlich anfängt, der so sehr verschrienen
französischen Aufklärung eine gerechtere Würdigung angedeihen zu lassen. In
der Periode der Romantik sind wir so lange daran gewöhnt worden, Boltaire
und alles, was sich ihm anschloß, in Bausch und Bogen zu verurtheilen, daß
wir uns jetzt gewissermaßen darüber wundern, wenn man uns erzählt, diese
Männer hätten doch ein ganz außerordentliches Verdienst gehabt, ja auf ihnen
beruhe zum Theil unsere ganze moderne Bildung. In Frankreich, obgleich
jetzt der reaktionäre Geist in vollster Blüte steht, finden sich doch schon geist¬
volle Schriftsteller genug, die zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen
in den Leistungen der Encyklopädisten sehr wohl zu unterscheiden wissen. Es
ist Zeit, baß auch wir Deutsche zur Besinnung kommen. Der Versasser des
vorliegenden Büchleins bemerkt sehr richtig, daß Voltaire viel mehr beurtheilt,
als gelesen worden ist. In der That fällt eS jetzt dem gewöhnlichen Leser
auch sehr schwer, sich durch die unendliche Reihe seiner Schriften durchzuarbei¬
ten, die, so vieles Interessante sie im Einzelnen bieten, doch zusammengenom¬
men einen sehr ermüdenden Eindruck machen. So kann man es einem Schrift¬
steller, der das Publicum wenigstens zum Theil der Mühe des eignen Lesens
überhebt, Dank wissen, wenn er nur wirklich ein richtiges Urtheil besitzt und
""befangen genug denkt, dieses Urtheil auszusprechen. Der Verfasser der vor¬
liegenden Schrift verbindet mit einer starken Wahrheitsliebe jene Vorsicht in
den Behauptungen, die nothwendig ist, um nicht einer augenblicklichen Vor¬
liebe und Stimmung zu viel nachzugeben. Aus seinen Untersuchungen stellt
sich unumstößlich heraus, daß man früher das Verhältniß der beiden Männer
(Voltaire und Rousseau) nicht ganz richtig auffaßte, daß Voltaire, abgesehen
von einzelnen zügellosen Einfällen, die bei dem routinirten Weltmann sehr
leicht begreiflich sind, nichts Anderes behauptet hat, als was die große Majo¬
rität des Volks noch heute für wahr hält, während Rousseau ein sehr bedenk¬
licher Sophist war, bei dem jedes Körnlein Wahrheit durch die gefährlichsten
Irrthümer entstellt wurde. Aber auch jene falsche Schätzung ist leicht zu er¬
klären. In dem vergangenen Zeitalter war es das Gefühl, welches sich gegen
den Verstand empörte, der eigentliche Inhalt der Ueberzeugungen kam erst in
zweiter Linie. Man hegte also die wärmste Sympathie für einen Schriftsteller,
der einer kalten Bildung gegenüber sich als Anwalt des souveränen Gefühls
geberdet hatte, und verurtheilte den kalten Weltmann, der sich jedem Gesühls-
inhalt durch Spott und Frivolität zu entziehen suchte. Seit der Zeit haben


Grenzboten. IV. 1866. 3^'

schienenes Buch geschrieben sind, so würde das doch wol eine sehr verschwen¬
dete Mühe sein. —


Voltaire und Rousseau in ihrer socialen Bedeutung dargestellt von
Jürgen Bona Meyer, Dr. pdil.'Berlin, G. Reimer. —

Es ist sehr zweckmäßig, daß man endlich anfängt, der so sehr verschrienen
französischen Aufklärung eine gerechtere Würdigung angedeihen zu lassen. In
der Periode der Romantik sind wir so lange daran gewöhnt worden, Boltaire
und alles, was sich ihm anschloß, in Bausch und Bogen zu verurtheilen, daß
wir uns jetzt gewissermaßen darüber wundern, wenn man uns erzählt, diese
Männer hätten doch ein ganz außerordentliches Verdienst gehabt, ja auf ihnen
beruhe zum Theil unsere ganze moderne Bildung. In Frankreich, obgleich
jetzt der reaktionäre Geist in vollster Blüte steht, finden sich doch schon geist¬
volle Schriftsteller genug, die zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen
in den Leistungen der Encyklopädisten sehr wohl zu unterscheiden wissen. Es
ist Zeit, baß auch wir Deutsche zur Besinnung kommen. Der Versasser des
vorliegenden Büchleins bemerkt sehr richtig, daß Voltaire viel mehr beurtheilt,
als gelesen worden ist. In der That fällt eS jetzt dem gewöhnlichen Leser
auch sehr schwer, sich durch die unendliche Reihe seiner Schriften durchzuarbei¬
ten, die, so vieles Interessante sie im Einzelnen bieten, doch zusammengenom¬
men einen sehr ermüdenden Eindruck machen. So kann man es einem Schrift¬
steller, der das Publicum wenigstens zum Theil der Mühe des eignen Lesens
überhebt, Dank wissen, wenn er nur wirklich ein richtiges Urtheil besitzt und
""befangen genug denkt, dieses Urtheil auszusprechen. Der Verfasser der vor¬
liegenden Schrift verbindet mit einer starken Wahrheitsliebe jene Vorsicht in
den Behauptungen, die nothwendig ist, um nicht einer augenblicklichen Vor¬
liebe und Stimmung zu viel nachzugeben. Aus seinen Untersuchungen stellt
sich unumstößlich heraus, daß man früher das Verhältniß der beiden Männer
(Voltaire und Rousseau) nicht ganz richtig auffaßte, daß Voltaire, abgesehen
von einzelnen zügellosen Einfällen, die bei dem routinirten Weltmann sehr
leicht begreiflich sind, nichts Anderes behauptet hat, als was die große Majo¬
rität des Volks noch heute für wahr hält, während Rousseau ein sehr bedenk¬
licher Sophist war, bei dem jedes Körnlein Wahrheit durch die gefährlichsten
Irrthümer entstellt wurde. Aber auch jene falsche Schätzung ist leicht zu er¬
klären. In dem vergangenen Zeitalter war es das Gefühl, welches sich gegen
den Verstand empörte, der eigentliche Inhalt der Ueberzeugungen kam erst in
zweiter Linie. Man hegte also die wärmste Sympathie für einen Schriftsteller,
der einer kalten Bildung gegenüber sich als Anwalt des souveränen Gefühls
geberdet hatte, und verurtheilte den kalten Weltmann, der sich jedem Gesühls-
inhalt durch Spott und Frivolität zu entziehen suchte. Seit der Zeit haben


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[0257] schienenes Buch geschrieben sind, so würde das doch wol eine sehr verschwen¬ dete Mühe sein. — Voltaire und Rousseau in ihrer socialen Bedeutung dargestellt von Jürgen Bona Meyer, Dr. pdil.'Berlin, G. Reimer. — Es ist sehr zweckmäßig, daß man endlich anfängt, der so sehr verschrienen französischen Aufklärung eine gerechtere Würdigung angedeihen zu lassen. In der Periode der Romantik sind wir so lange daran gewöhnt worden, Boltaire und alles, was sich ihm anschloß, in Bausch und Bogen zu verurtheilen, daß wir uns jetzt gewissermaßen darüber wundern, wenn man uns erzählt, diese Männer hätten doch ein ganz außerordentliches Verdienst gehabt, ja auf ihnen beruhe zum Theil unsere ganze moderne Bildung. In Frankreich, obgleich jetzt der reaktionäre Geist in vollster Blüte steht, finden sich doch schon geist¬ volle Schriftsteller genug, die zwischen dem Bleibenden und dem Vergänglichen in den Leistungen der Encyklopädisten sehr wohl zu unterscheiden wissen. Es ist Zeit, baß auch wir Deutsche zur Besinnung kommen. Der Versasser des vorliegenden Büchleins bemerkt sehr richtig, daß Voltaire viel mehr beurtheilt, als gelesen worden ist. In der That fällt eS jetzt dem gewöhnlichen Leser auch sehr schwer, sich durch die unendliche Reihe seiner Schriften durchzuarbei¬ ten, die, so vieles Interessante sie im Einzelnen bieten, doch zusammengenom¬ men einen sehr ermüdenden Eindruck machen. So kann man es einem Schrift¬ steller, der das Publicum wenigstens zum Theil der Mühe des eignen Lesens überhebt, Dank wissen, wenn er nur wirklich ein richtiges Urtheil besitzt und ""befangen genug denkt, dieses Urtheil auszusprechen. Der Verfasser der vor¬ liegenden Schrift verbindet mit einer starken Wahrheitsliebe jene Vorsicht in den Behauptungen, die nothwendig ist, um nicht einer augenblicklichen Vor¬ liebe und Stimmung zu viel nachzugeben. Aus seinen Untersuchungen stellt sich unumstößlich heraus, daß man früher das Verhältniß der beiden Männer (Voltaire und Rousseau) nicht ganz richtig auffaßte, daß Voltaire, abgesehen von einzelnen zügellosen Einfällen, die bei dem routinirten Weltmann sehr leicht begreiflich sind, nichts Anderes behauptet hat, als was die große Majo¬ rität des Volks noch heute für wahr hält, während Rousseau ein sehr bedenk¬ licher Sophist war, bei dem jedes Körnlein Wahrheit durch die gefährlichsten Irrthümer entstellt wurde. Aber auch jene falsche Schätzung ist leicht zu er¬ klären. In dem vergangenen Zeitalter war es das Gefühl, welches sich gegen den Verstand empörte, der eigentliche Inhalt der Ueberzeugungen kam erst in zweiter Linie. Man hegte also die wärmste Sympathie für einen Schriftsteller, der einer kalten Bildung gegenüber sich als Anwalt des souveränen Gefühls geberdet hatte, und verurtheilte den kalten Weltmann, der sich jedem Gesühls- inhalt durch Spott und Frivolität zu entziehen suchte. Seit der Zeit haben Grenzboten. IV. 1866. 3^'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/257>, abgerufen am 23.07.2024.