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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Leben hinein, und daß ihn auch die Erziehung daran gewöhnen soll. Stellen
wir uns aber vor, wie es Goethe vorstellt, daß ein Lehrer diese symbolische
Idee praktisch ausführte, indem er eine Reihe von Jungen eine Stunde lang
gerade aus blicken, eine andere nach oben, eine dritte nach unten sehen läßt,
so würden wir ihn wahrscheinlich für verrückt halten, auf alle Fälle ihm unsre
Kinder nicht anvertrauen. Nun mag man die Frage, ob und wie weit die
Poesie eine Imitation deS Wirklichen sein soll, dahingestellt sein lassen, beim
Roman steht die Sache jedenfalls einfacher. Wir müssen uns das, was der
Roman erzählt, als wirklich vorstellen, sonst bat es gar keinen Sinn. Das
werden wir aber bei den gesammten Wanderjahren (abgesehn von den einge¬
streuten Novellen, die zum Theil aus früherer Zeit herrühren und die zum
Roman gar keine Beziehung baben) vergebens versuchen. Noch einmal: auch
in den Wanderjahren, wie in dem zweiten Theil des Faust, erkennen wir auf
jeder Seite den geistvollen und tiefblickenden Mann, aber nicht mehr den
Dichter, denn die Kraft des Dichters besteht darin, uns seine Eingebungen
als Wirklichkeit vorstellig zu machen. -- Ein zweiter Punkt. Ich habe be¬
hauptet, daß in der Darstellung der Arbeit, zu der in andrer Beziehung kein
Dichter so befähigt gewesen wäre als Goethe, der Dichter der Wanderjahre
den Fehler begeht, nur die Arbeit darzustellen, nicht das Individuum, welches
neben seiner Function innerhalb der großen Maschine auch noch eine Existenz
für sich hat; er beging den Fehler deshalb, weil er die Kraft zu individualisiren
bereits verloren hatte. Rosenkranz meint, man müsse die Figuren der Wander-
i"hre aus den Lehrjahren ergänzen; aber er vergißt dabei, daß Wilhelm,
Äarlo u. s. w. in den Wanderjahren als etwas ganz Anderes auftreten, wie
in den Lehrjahren, und daß uns über den Sprung vom Jarlo zum Montano
gar keine, oder was noch schlimmer ist, eine ganz oberflächliche äußerliche Auf¬
klärung gegeben wird. -- In diesem ganzen Capitel finde ich kaum eine einzige
Zeile, die ich unterschreiben möchte, oder von der ich voraussetzen könnte,
irgend ein anderer würde sie unterschreiben; und hier hätte Rosenkranz doch 5
Wol durch den oonssnsug xkritium, ich will nicht sagen, irre gemacht, aber zu
einer sorgfältigern Prüfung seiner Ansicht geführt werden sollen. Da er in
der neuen Ausgabe doch nicht einen bloßen Abdruck der alten gegeben hat,
so hätte in diesem Fall manche seiner Ansichten eine befriedigendere und halt-'
barere Form gewonnen. --


Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Dichtungen. Von l>r
Heinrich Pröhle. Leipzig. G. Mayer. --

Der Titel ist nicht ganz genau, denn das Buch enthält nicht vollständig
die Biographie Bürgers und die Kritik seiner Dichtungen, sondern es besteht
aus einer Reihe einzelner Aufsätze, die nur annäherungsweise ein vollständiges


Leben hinein, und daß ihn auch die Erziehung daran gewöhnen soll. Stellen
wir uns aber vor, wie es Goethe vorstellt, daß ein Lehrer diese symbolische
Idee praktisch ausführte, indem er eine Reihe von Jungen eine Stunde lang
gerade aus blicken, eine andere nach oben, eine dritte nach unten sehen läßt,
so würden wir ihn wahrscheinlich für verrückt halten, auf alle Fälle ihm unsre
Kinder nicht anvertrauen. Nun mag man die Frage, ob und wie weit die
Poesie eine Imitation deS Wirklichen sein soll, dahingestellt sein lassen, beim
Roman steht die Sache jedenfalls einfacher. Wir müssen uns das, was der
Roman erzählt, als wirklich vorstellen, sonst bat es gar keinen Sinn. Das
werden wir aber bei den gesammten Wanderjahren (abgesehn von den einge¬
streuten Novellen, die zum Theil aus früherer Zeit herrühren und die zum
Roman gar keine Beziehung baben) vergebens versuchen. Noch einmal: auch
in den Wanderjahren, wie in dem zweiten Theil des Faust, erkennen wir auf
jeder Seite den geistvollen und tiefblickenden Mann, aber nicht mehr den
Dichter, denn die Kraft des Dichters besteht darin, uns seine Eingebungen
als Wirklichkeit vorstellig zu machen. — Ein zweiter Punkt. Ich habe be¬
hauptet, daß in der Darstellung der Arbeit, zu der in andrer Beziehung kein
Dichter so befähigt gewesen wäre als Goethe, der Dichter der Wanderjahre
den Fehler begeht, nur die Arbeit darzustellen, nicht das Individuum, welches
neben seiner Function innerhalb der großen Maschine auch noch eine Existenz
für sich hat; er beging den Fehler deshalb, weil er die Kraft zu individualisiren
bereits verloren hatte. Rosenkranz meint, man müsse die Figuren der Wander-
i"hre aus den Lehrjahren ergänzen; aber er vergißt dabei, daß Wilhelm,
Äarlo u. s. w. in den Wanderjahren als etwas ganz Anderes auftreten, wie
in den Lehrjahren, und daß uns über den Sprung vom Jarlo zum Montano
gar keine, oder was noch schlimmer ist, eine ganz oberflächliche äußerliche Auf¬
klärung gegeben wird. — In diesem ganzen Capitel finde ich kaum eine einzige
Zeile, die ich unterschreiben möchte, oder von der ich voraussetzen könnte,
irgend ein anderer würde sie unterschreiben; und hier hätte Rosenkranz doch 5
Wol durch den oonssnsug xkritium, ich will nicht sagen, irre gemacht, aber zu
einer sorgfältigern Prüfung seiner Ansicht geführt werden sollen. Da er in
der neuen Ausgabe doch nicht einen bloßen Abdruck der alten gegeben hat,
so hätte in diesem Fall manche seiner Ansichten eine befriedigendere und halt-'
barere Form gewonnen. —


Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Dichtungen. Von l>r
Heinrich Pröhle. Leipzig. G. Mayer. —

Der Titel ist nicht ganz genau, denn das Buch enthält nicht vollständig
die Biographie Bürgers und die Kritik seiner Dichtungen, sondern es besteht
aus einer Reihe einzelner Aufsätze, die nur annäherungsweise ein vollständiges


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[0253] Leben hinein, und daß ihn auch die Erziehung daran gewöhnen soll. Stellen wir uns aber vor, wie es Goethe vorstellt, daß ein Lehrer diese symbolische Idee praktisch ausführte, indem er eine Reihe von Jungen eine Stunde lang gerade aus blicken, eine andere nach oben, eine dritte nach unten sehen läßt, so würden wir ihn wahrscheinlich für verrückt halten, auf alle Fälle ihm unsre Kinder nicht anvertrauen. Nun mag man die Frage, ob und wie weit die Poesie eine Imitation deS Wirklichen sein soll, dahingestellt sein lassen, beim Roman steht die Sache jedenfalls einfacher. Wir müssen uns das, was der Roman erzählt, als wirklich vorstellen, sonst bat es gar keinen Sinn. Das werden wir aber bei den gesammten Wanderjahren (abgesehn von den einge¬ streuten Novellen, die zum Theil aus früherer Zeit herrühren und die zum Roman gar keine Beziehung baben) vergebens versuchen. Noch einmal: auch in den Wanderjahren, wie in dem zweiten Theil des Faust, erkennen wir auf jeder Seite den geistvollen und tiefblickenden Mann, aber nicht mehr den Dichter, denn die Kraft des Dichters besteht darin, uns seine Eingebungen als Wirklichkeit vorstellig zu machen. — Ein zweiter Punkt. Ich habe be¬ hauptet, daß in der Darstellung der Arbeit, zu der in andrer Beziehung kein Dichter so befähigt gewesen wäre als Goethe, der Dichter der Wanderjahre den Fehler begeht, nur die Arbeit darzustellen, nicht das Individuum, welches neben seiner Function innerhalb der großen Maschine auch noch eine Existenz für sich hat; er beging den Fehler deshalb, weil er die Kraft zu individualisiren bereits verloren hatte. Rosenkranz meint, man müsse die Figuren der Wander- i"hre aus den Lehrjahren ergänzen; aber er vergißt dabei, daß Wilhelm, Äarlo u. s. w. in den Wanderjahren als etwas ganz Anderes auftreten, wie in den Lehrjahren, und daß uns über den Sprung vom Jarlo zum Montano gar keine, oder was noch schlimmer ist, eine ganz oberflächliche äußerliche Auf¬ klärung gegeben wird. — In diesem ganzen Capitel finde ich kaum eine einzige Zeile, die ich unterschreiben möchte, oder von der ich voraussetzen könnte, irgend ein anderer würde sie unterschreiben; und hier hätte Rosenkranz doch 5 Wol durch den oonssnsug xkritium, ich will nicht sagen, irre gemacht, aber zu einer sorgfältigern Prüfung seiner Ansicht geführt werden sollen. Da er in der neuen Ausgabe doch nicht einen bloßen Abdruck der alten gegeben hat, so hätte in diesem Fall manche seiner Ansichten eine befriedigendere und halt-' barere Form gewonnen. — Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Dichtungen. Von l>r Heinrich Pröhle. Leipzig. G. Mayer. — Der Titel ist nicht ganz genau, denn das Buch enthält nicht vollständig die Biographie Bürgers und die Kritik seiner Dichtungen, sondern es besteht aus einer Reihe einzelner Aufsätze, die nur annäherungsweise ein vollständiges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/253>, abgerufen am 03.07.2024.