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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Andrerseits war Sicilien nie zu überzeugen, daß eS die Pflicht habe,
Freiheit, Neigung zur Selbstregierung und den Unabhängigkeitsdrang des In¬
sulaners aufzuopfern, weil in der That der metternichsche "geographische Be¬
griff" in Sicilien selbst seine Basis habe. Neapel brauchte Sicilien, damit
es keinem andern zur Beute werden sollte. Sicilien aber mit der unbesieg¬
baren Keckheit eines Unentbehrlichen wollte von Neapels Schutz nicht mehr
wissen, als von seiner Mahl- und Schlachtsteuer, seinem Beamtenheer, seinen
Besatzungen, seinen Doganawächtern, seinen Einsorderern der Civillistenfteuer.

Dies Zwillingsverhältniß, in manchen Punkten dem Verhältniß Schles¬
wig-Holsteins zu dem dänischen Duodezstaat nicht unähnlich, ist einer der
Hauptgründe, warum das Königreich beider Sicilien immer schwer zu regieren
sein wird, selbst dann noch, wenn Diplomatenweisheit anderer Staaten nicht
mehr darauf bestehen wird, von ihrem Ueberflusse diesem unglücklichen Lande
zu Theil werden zu lassen.

In der unheilvollsten Weise vielleicht geschah dies 1821. Im Juli des
vorhergegangenen Jahres hatte das Land, durch den Aufstand von Monte-
forte, die spanische Constitution sich wieder erobert. Der König war gezwungen,
nachzugeben, und er that es mit dem guten Willen, welcher selbst dem Zwange
manches von seiner Herbheit nimmt. Aber von den Monarchen Rußlands,
Oestreichs und Preußens zu dem Kongreß nach Laibach eingeladen, wurde er
veranlaßt, mit Hilfe östreichischer Bajonette den vorconstitutionellen Zustand
wieder herzustellen. Es geschah, und die Grausamkeit, mit welcher die alte
Partei sich für die überstanden" Angst rächte, überstieg alles, was man sich
nach gewöhnlichen Begriffen von reactionären Umwälzungen vorstellt.

Ueber diese Grausamkeiten gibt ein unverdächtiges Zeugniß Bericht, das
wir hier nicht unerwähnt lassen dürfen. Wir würden bei der Geschichte andrer
civilisirter Länder Anstand nehmen, drei Jahrzehnte rückwärts zu gehen, um
zu zeigen, wie die Parteileidenschaft verfährt. Aber Neapel ist seitdem kaum
vorwärts geschritten, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir zwischen
damals und jetzt bei ähnlichen Umständen kaum einen Unterschied zugeben
mögen. Gladstones Briese, die wir nicht zu vergleichen Gelegenheit hatten,
bestätigen übrigens, so weit wir uns ihrer von früher her erinnern, das
Gesagte.

Jenes Zeugniß findet sich in dem Rapport des Baron Woher (d. d. Co-
senza 3. Malz -1823) an seinen Vorgesetzten, General Baron Frimont, Chef
der östreichischen Erpeditionsarmee. Er lautet nach der Rückübersetzung aus
dem uns vorliegenden italienischen Document:

. "Menschlichkeit, Pflichtgefühl und Klugheit veranlassen mich, Ew. Excellenz
Zu empfehlen, durchgreifende Mittel zur Beseitigung des Krankheitsstvffes zu
^greifen, von welchem diese Provinz täglich mehr angesteckt wird. Stündlich


Andrerseits war Sicilien nie zu überzeugen, daß eS die Pflicht habe,
Freiheit, Neigung zur Selbstregierung und den Unabhängigkeitsdrang des In¬
sulaners aufzuopfern, weil in der That der metternichsche „geographische Be¬
griff" in Sicilien selbst seine Basis habe. Neapel brauchte Sicilien, damit
es keinem andern zur Beute werden sollte. Sicilien aber mit der unbesieg¬
baren Keckheit eines Unentbehrlichen wollte von Neapels Schutz nicht mehr
wissen, als von seiner Mahl- und Schlachtsteuer, seinem Beamtenheer, seinen
Besatzungen, seinen Doganawächtern, seinen Einsorderern der Civillistenfteuer.

Dies Zwillingsverhältniß, in manchen Punkten dem Verhältniß Schles¬
wig-Holsteins zu dem dänischen Duodezstaat nicht unähnlich, ist einer der
Hauptgründe, warum das Königreich beider Sicilien immer schwer zu regieren
sein wird, selbst dann noch, wenn Diplomatenweisheit anderer Staaten nicht
mehr darauf bestehen wird, von ihrem Ueberflusse diesem unglücklichen Lande
zu Theil werden zu lassen.

In der unheilvollsten Weise vielleicht geschah dies 1821. Im Juli des
vorhergegangenen Jahres hatte das Land, durch den Aufstand von Monte-
forte, die spanische Constitution sich wieder erobert. Der König war gezwungen,
nachzugeben, und er that es mit dem guten Willen, welcher selbst dem Zwange
manches von seiner Herbheit nimmt. Aber von den Monarchen Rußlands,
Oestreichs und Preußens zu dem Kongreß nach Laibach eingeladen, wurde er
veranlaßt, mit Hilfe östreichischer Bajonette den vorconstitutionellen Zustand
wieder herzustellen. Es geschah, und die Grausamkeit, mit welcher die alte
Partei sich für die überstanden« Angst rächte, überstieg alles, was man sich
nach gewöhnlichen Begriffen von reactionären Umwälzungen vorstellt.

Ueber diese Grausamkeiten gibt ein unverdächtiges Zeugniß Bericht, das
wir hier nicht unerwähnt lassen dürfen. Wir würden bei der Geschichte andrer
civilisirter Länder Anstand nehmen, drei Jahrzehnte rückwärts zu gehen, um
zu zeigen, wie die Parteileidenschaft verfährt. Aber Neapel ist seitdem kaum
vorwärts geschritten, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir zwischen
damals und jetzt bei ähnlichen Umständen kaum einen Unterschied zugeben
mögen. Gladstones Briese, die wir nicht zu vergleichen Gelegenheit hatten,
bestätigen übrigens, so weit wir uns ihrer von früher her erinnern, das
Gesagte.

Jenes Zeugniß findet sich in dem Rapport des Baron Woher (d. d. Co-
senza 3. Malz -1823) an seinen Vorgesetzten, General Baron Frimont, Chef
der östreichischen Erpeditionsarmee. Er lautet nach der Rückübersetzung aus
dem uns vorliegenden italienischen Document:

. „Menschlichkeit, Pflichtgefühl und Klugheit veranlassen mich, Ew. Excellenz
Zu empfehlen, durchgreifende Mittel zur Beseitigung des Krankheitsstvffes zu
^greifen, von welchem diese Provinz täglich mehr angesteckt wird. Stündlich


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[0239] Andrerseits war Sicilien nie zu überzeugen, daß eS die Pflicht habe, Freiheit, Neigung zur Selbstregierung und den Unabhängigkeitsdrang des In¬ sulaners aufzuopfern, weil in der That der metternichsche „geographische Be¬ griff" in Sicilien selbst seine Basis habe. Neapel brauchte Sicilien, damit es keinem andern zur Beute werden sollte. Sicilien aber mit der unbesieg¬ baren Keckheit eines Unentbehrlichen wollte von Neapels Schutz nicht mehr wissen, als von seiner Mahl- und Schlachtsteuer, seinem Beamtenheer, seinen Besatzungen, seinen Doganawächtern, seinen Einsorderern der Civillistenfteuer. Dies Zwillingsverhältniß, in manchen Punkten dem Verhältniß Schles¬ wig-Holsteins zu dem dänischen Duodezstaat nicht unähnlich, ist einer der Hauptgründe, warum das Königreich beider Sicilien immer schwer zu regieren sein wird, selbst dann noch, wenn Diplomatenweisheit anderer Staaten nicht mehr darauf bestehen wird, von ihrem Ueberflusse diesem unglücklichen Lande zu Theil werden zu lassen. In der unheilvollsten Weise vielleicht geschah dies 1821. Im Juli des vorhergegangenen Jahres hatte das Land, durch den Aufstand von Monte- forte, die spanische Constitution sich wieder erobert. Der König war gezwungen, nachzugeben, und er that es mit dem guten Willen, welcher selbst dem Zwange manches von seiner Herbheit nimmt. Aber von den Monarchen Rußlands, Oestreichs und Preußens zu dem Kongreß nach Laibach eingeladen, wurde er veranlaßt, mit Hilfe östreichischer Bajonette den vorconstitutionellen Zustand wieder herzustellen. Es geschah, und die Grausamkeit, mit welcher die alte Partei sich für die überstanden« Angst rächte, überstieg alles, was man sich nach gewöhnlichen Begriffen von reactionären Umwälzungen vorstellt. Ueber diese Grausamkeiten gibt ein unverdächtiges Zeugniß Bericht, das wir hier nicht unerwähnt lassen dürfen. Wir würden bei der Geschichte andrer civilisirter Länder Anstand nehmen, drei Jahrzehnte rückwärts zu gehen, um zu zeigen, wie die Parteileidenschaft verfährt. Aber Neapel ist seitdem kaum vorwärts geschritten, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir zwischen damals und jetzt bei ähnlichen Umständen kaum einen Unterschied zugeben mögen. Gladstones Briese, die wir nicht zu vergleichen Gelegenheit hatten, bestätigen übrigens, so weit wir uns ihrer von früher her erinnern, das Gesagte. Jenes Zeugniß findet sich in dem Rapport des Baron Woher (d. d. Co- senza 3. Malz -1823) an seinen Vorgesetzten, General Baron Frimont, Chef der östreichischen Erpeditionsarmee. Er lautet nach der Rückübersetzung aus dem uns vorliegenden italienischen Document: . „Menschlichkeit, Pflichtgefühl und Klugheit veranlassen mich, Ew. Excellenz Zu empfehlen, durchgreifende Mittel zur Beseitigung des Krankheitsstvffes zu ^greifen, von welchem diese Provinz täglich mehr angesteckt wird. Stündlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/239>, abgerufen am 23.07.2024.