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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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ben wir es in der That nicht blos mit einem feinen Kopf, sondern auch mit
einem hochgebildeten Künstler zu thun, und was er uns von seinem LieblingS-
componisten erzählt, ist nicht blos unterhaltend, sondern es gibt uns auch ein
ziemlich deutliches Bild von seiner eignen Empfindungswelt; aber der Uebel¬
stand ist der, daß diese Empfindungswelt dem Kritiker allein angehört; wenn
wir selbst unbefangen und gewissenhaft jene Musikstücke anhören, so wer¬
den in uns ganz andere, vielleicht die entgegengesetzten Empfindungen rege,
und was die Hauptsache ist, unser Urtheil sühlt sich in keiner Weise befriedigt.
Am erfolgreichsten ist diese Methode noch da, wo sie auf einen Componisten
angewendet wird, dessen geistige Bildung höher steht, als seine musikalische
Kraft, bei dem es also vorzugsweise darauf ankommt, die Absichten zu ent-
räthseln, da die technischen Mittel in keiner Weise den gerechten Anforderungen
entsprechen. Wollte man die Methode, die bei Richard Wagner noch eher
angebracht ist, z. B. auf Mozart anwenden, so würde der Leser gar nichts
erfahren, denn Mozarts Intentionen sind jedermanns Intentionen; seine Größe
liegt in der Art und Weise, wie er sie ausgeführt hat.

Ganz kann diese Schwierigkeit nicht überwunden werden. Wir haben im
Früheren darauf aufmerksam gemacht, daß schon der Geschichtschreiber der Lite¬
ratur in einem großen Nachtheil gegen den politischen Geschichtschreiber steht.
Der letztere kann durch umfangreiches Wissen und eine geschickte beredte Sprache
ein Bild entwerfen, welches dem Gegenstand wenigstens bis zu einer gewissen
Grenze hin völlig adäquat ist, dem ersteren ist es versagt. Aber ' auch die
Literaturgeschichte ist darin noch viel günstiger gestellt, als die Kunstgeschichte,
namentlich als die Geschichte der Musik. Das Mittel, einen Theil des Kunst¬
werks in Noten zu firiren, reicht nicht weit, denn man kann wol einzelne Melodien
einzelne merkwürdige harmonische Uebergänge und dergleichen zeigen; was aber
bei einem größern Kunstwerk die Hauptsache ist, die Construction des Ganzen, --
zum Verständniß dieser eigentlich künstlerischen Thätigkeit helfen die Noten
nicht viel, der Schriftsteller ist doch in der Lage, zu seinem eigentlichen Hand¬
werkszeug, zum Wort zu greifen. Aehnlich verhält es sich mit der Anwen¬
dung musikalischer Kunstausdrücke, die noch den Uebelstand haben, einem
großen Theil der Leser unverständlich zu sein.

Wir glauben nicht, daß eS irgend einem Schriftsteller der Gegenwart
mehr gelungen ist, diese Schwierigkeiten bis an die Grenzen des Möglichen
zu überwinden, als dem Verfasser des vorliegenden Werks. Es kommt ihm dabei
der glückliche Umstand zu Statten, der bei Musikern nur selten eintritt, daß er mit
einer gründlichen technischen Vorbildung und einer reichen Empfindung die Fähig¬
keit verbindet, das was er empfindet und denkt, klar und deutlich wiederzugeben.
Seine Empfindung wird überall durch ein bestimmtes Bewußtsein getragen,
und er erkennt nicht blos mit einem schnellen und sichern Blick heraus, wo


ben wir es in der That nicht blos mit einem feinen Kopf, sondern auch mit
einem hochgebildeten Künstler zu thun, und was er uns von seinem LieblingS-
componisten erzählt, ist nicht blos unterhaltend, sondern es gibt uns auch ein
ziemlich deutliches Bild von seiner eignen Empfindungswelt; aber der Uebel¬
stand ist der, daß diese Empfindungswelt dem Kritiker allein angehört; wenn
wir selbst unbefangen und gewissenhaft jene Musikstücke anhören, so wer¬
den in uns ganz andere, vielleicht die entgegengesetzten Empfindungen rege,
und was die Hauptsache ist, unser Urtheil sühlt sich in keiner Weise befriedigt.
Am erfolgreichsten ist diese Methode noch da, wo sie auf einen Componisten
angewendet wird, dessen geistige Bildung höher steht, als seine musikalische
Kraft, bei dem es also vorzugsweise darauf ankommt, die Absichten zu ent-
räthseln, da die technischen Mittel in keiner Weise den gerechten Anforderungen
entsprechen. Wollte man die Methode, die bei Richard Wagner noch eher
angebracht ist, z. B. auf Mozart anwenden, so würde der Leser gar nichts
erfahren, denn Mozarts Intentionen sind jedermanns Intentionen; seine Größe
liegt in der Art und Weise, wie er sie ausgeführt hat.

Ganz kann diese Schwierigkeit nicht überwunden werden. Wir haben im
Früheren darauf aufmerksam gemacht, daß schon der Geschichtschreiber der Lite¬
ratur in einem großen Nachtheil gegen den politischen Geschichtschreiber steht.
Der letztere kann durch umfangreiches Wissen und eine geschickte beredte Sprache
ein Bild entwerfen, welches dem Gegenstand wenigstens bis zu einer gewissen
Grenze hin völlig adäquat ist, dem ersteren ist es versagt. Aber ' auch die
Literaturgeschichte ist darin noch viel günstiger gestellt, als die Kunstgeschichte,
namentlich als die Geschichte der Musik. Das Mittel, einen Theil des Kunst¬
werks in Noten zu firiren, reicht nicht weit, denn man kann wol einzelne Melodien
einzelne merkwürdige harmonische Uebergänge und dergleichen zeigen; was aber
bei einem größern Kunstwerk die Hauptsache ist, die Construction des Ganzen, —
zum Verständniß dieser eigentlich künstlerischen Thätigkeit helfen die Noten
nicht viel, der Schriftsteller ist doch in der Lage, zu seinem eigentlichen Hand¬
werkszeug, zum Wort zu greifen. Aehnlich verhält es sich mit der Anwen¬
dung musikalischer Kunstausdrücke, die noch den Uebelstand haben, einem
großen Theil der Leser unverständlich zu sein.

Wir glauben nicht, daß eS irgend einem Schriftsteller der Gegenwart
mehr gelungen ist, diese Schwierigkeiten bis an die Grenzen des Möglichen
zu überwinden, als dem Verfasser des vorliegenden Werks. Es kommt ihm dabei
der glückliche Umstand zu Statten, der bei Musikern nur selten eintritt, daß er mit
einer gründlichen technischen Vorbildung und einer reichen Empfindung die Fähig¬
keit verbindet, das was er empfindet und denkt, klar und deutlich wiederzugeben.
Seine Empfindung wird überall durch ein bestimmtes Bewußtsein getragen,
und er erkennt nicht blos mit einem schnellen und sichern Blick heraus, wo


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/228>, abgerufen am 23.07.2024.