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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Masse zu bewegen, den Mängeln abzuhelfen, mit denen der Beichtvater und
der Lehrer täglich' zu kämpfen hatte. Daher finden wir es denn häufig aus¬
gesprochen, daß das Bild auf die Unwissenden wirken, die Schrift bei
denjenigen, die sie nicht lesen konnten, ersetzen, ihnen die heiligen Hergange
versinnlichen solle. Dieser Zweck war bei einem rohen, aber gläubigen Volke
leicht erreicht, und es wird oft gerühmt, daß die Einfältigen, welche dem Worte
und der Ermahnung unzugänglich gewesen waren, durch die Bilder tief, zu
Thränen gerührt und bekehrt worden seien. Indessen bedürfte es dazu bei
rohen Gemüthern starker, greller Motive; aus tiefere Wahrheit, auf feinere,
der Natur abgelauschte Züge kam es nicht an, sondern auf derbe Darstellung
der Martern, Leiden und Wunder. Schrecken, Erstaunen, Furcht zu erregen,
den Gedanken an Strafe hervorzurufen, die stumpfe Phantasie mächtig zu
treffen und das Gewissen aus seinem Schlummer zu wecken, das war die zu¬
weilen mit dürren Worten ausgesprochene Aufgabe der Kunst. Es ist begreiflich,
daß gewaltsame Bewegungen, Uebertreibungen aller Art für diese Zwecke am
dienlichsten waren, und daß selbst die Unschönheit der Gestalten dazu mitwirken
konnte. Ein zweiter für die Kunst nachtheiliger Umstand war die traditionelle
Stellung der damaligen Welt. Die Griechen deS hierarchischen Zeitalters, wenn
auch bei ihnen der Sinn ausschließlich aus das Strenge und Allgemeine ge¬
richtet war, und wenn sie auch, sei es aus Asien, sei es aus Aegypten, künst¬
lerische Traditionen erhalten hatten, welche sie mit religiöser Ehrfurcht befolg¬
ten, schöpften doch im Wesentlichen aus der Natur. Die Völker unserer
Epoche betrachteten dagegen die Tradition als ihre ausschließliche Lehrmeisterin;
der Gedanke, die Natur zu beobachten und aus ihr zu nehmen, war ihnen
völlig fremd. Sie wußten daher auch in der Kunst nicht anders, als sie aus
überlieferten Vorbildern zu erlernen und diese nachzuahmen; sie hatten dabei
die Erzeugnisse der altchristlichen und spätrömischen oder allenfalls byzantini¬
schen Kunst, mithin bereits abgeleitete, halb verstandene Vorbilder vor sich,
und faßten ihrerseits dieselben wieder mit halbem Verständniß auf. -- Gewiß
liegt in dieser Auffassung der ersten Periode des Mittelalters ein scharfer Jn-
stinct für das Wesentliche; nicht minder werden wir erfreut, wenn Schnaase
in der zweiten Periode desselben die Beziehungen der frühgothischen Baukunst
zur Scholastik erörtert.

ES versteht sich, daß ein unmittelbarer Verkehr zwischen der Bauhütte
und den Lehrsälen der Philosophen nicht bestand, daß Meister und Gesellen
nicht Schurzfell und Meißel ablegten, um den Disputationen zu lauschen.
Aber das Bestreben der Forschung und der Geist scholastischer Distinction und
Bestimmtheit theilte sich allen Classen so weit mit, als ihr Beruf dafür em¬
pfänglich war, und von keinem galt dies in höherem Grade, als von dem der
Architekten. Daher denn bei ihnen das Betonen des geometrischen Elements,


Masse zu bewegen, den Mängeln abzuhelfen, mit denen der Beichtvater und
der Lehrer täglich' zu kämpfen hatte. Daher finden wir es denn häufig aus¬
gesprochen, daß das Bild auf die Unwissenden wirken, die Schrift bei
denjenigen, die sie nicht lesen konnten, ersetzen, ihnen die heiligen Hergange
versinnlichen solle. Dieser Zweck war bei einem rohen, aber gläubigen Volke
leicht erreicht, und es wird oft gerühmt, daß die Einfältigen, welche dem Worte
und der Ermahnung unzugänglich gewesen waren, durch die Bilder tief, zu
Thränen gerührt und bekehrt worden seien. Indessen bedürfte es dazu bei
rohen Gemüthern starker, greller Motive; aus tiefere Wahrheit, auf feinere,
der Natur abgelauschte Züge kam es nicht an, sondern auf derbe Darstellung
der Martern, Leiden und Wunder. Schrecken, Erstaunen, Furcht zu erregen,
den Gedanken an Strafe hervorzurufen, die stumpfe Phantasie mächtig zu
treffen und das Gewissen aus seinem Schlummer zu wecken, das war die zu¬
weilen mit dürren Worten ausgesprochene Aufgabe der Kunst. Es ist begreiflich,
daß gewaltsame Bewegungen, Uebertreibungen aller Art für diese Zwecke am
dienlichsten waren, und daß selbst die Unschönheit der Gestalten dazu mitwirken
konnte. Ein zweiter für die Kunst nachtheiliger Umstand war die traditionelle
Stellung der damaligen Welt. Die Griechen deS hierarchischen Zeitalters, wenn
auch bei ihnen der Sinn ausschließlich aus das Strenge und Allgemeine ge¬
richtet war, und wenn sie auch, sei es aus Asien, sei es aus Aegypten, künst¬
lerische Traditionen erhalten hatten, welche sie mit religiöser Ehrfurcht befolg¬
ten, schöpften doch im Wesentlichen aus der Natur. Die Völker unserer
Epoche betrachteten dagegen die Tradition als ihre ausschließliche Lehrmeisterin;
der Gedanke, die Natur zu beobachten und aus ihr zu nehmen, war ihnen
völlig fremd. Sie wußten daher auch in der Kunst nicht anders, als sie aus
überlieferten Vorbildern zu erlernen und diese nachzuahmen; sie hatten dabei
die Erzeugnisse der altchristlichen und spätrömischen oder allenfalls byzantini¬
schen Kunst, mithin bereits abgeleitete, halb verstandene Vorbilder vor sich,
und faßten ihrerseits dieselben wieder mit halbem Verständniß auf. — Gewiß
liegt in dieser Auffassung der ersten Periode des Mittelalters ein scharfer Jn-
stinct für das Wesentliche; nicht minder werden wir erfreut, wenn Schnaase
in der zweiten Periode desselben die Beziehungen der frühgothischen Baukunst
zur Scholastik erörtert.

ES versteht sich, daß ein unmittelbarer Verkehr zwischen der Bauhütte
und den Lehrsälen der Philosophen nicht bestand, daß Meister und Gesellen
nicht Schurzfell und Meißel ablegten, um den Disputationen zu lauschen.
Aber das Bestreben der Forschung und der Geist scholastischer Distinction und
Bestimmtheit theilte sich allen Classen so weit mit, als ihr Beruf dafür em¬
pfänglich war, und von keinem galt dies in höherem Grade, als von dem der
Architekten. Daher denn bei ihnen das Betonen des geometrischen Elements,


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[0216] Masse zu bewegen, den Mängeln abzuhelfen, mit denen der Beichtvater und der Lehrer täglich' zu kämpfen hatte. Daher finden wir es denn häufig aus¬ gesprochen, daß das Bild auf die Unwissenden wirken, die Schrift bei denjenigen, die sie nicht lesen konnten, ersetzen, ihnen die heiligen Hergange versinnlichen solle. Dieser Zweck war bei einem rohen, aber gläubigen Volke leicht erreicht, und es wird oft gerühmt, daß die Einfältigen, welche dem Worte und der Ermahnung unzugänglich gewesen waren, durch die Bilder tief, zu Thränen gerührt und bekehrt worden seien. Indessen bedürfte es dazu bei rohen Gemüthern starker, greller Motive; aus tiefere Wahrheit, auf feinere, der Natur abgelauschte Züge kam es nicht an, sondern auf derbe Darstellung der Martern, Leiden und Wunder. Schrecken, Erstaunen, Furcht zu erregen, den Gedanken an Strafe hervorzurufen, die stumpfe Phantasie mächtig zu treffen und das Gewissen aus seinem Schlummer zu wecken, das war die zu¬ weilen mit dürren Worten ausgesprochene Aufgabe der Kunst. Es ist begreiflich, daß gewaltsame Bewegungen, Uebertreibungen aller Art für diese Zwecke am dienlichsten waren, und daß selbst die Unschönheit der Gestalten dazu mitwirken konnte. Ein zweiter für die Kunst nachtheiliger Umstand war die traditionelle Stellung der damaligen Welt. Die Griechen deS hierarchischen Zeitalters, wenn auch bei ihnen der Sinn ausschließlich aus das Strenge und Allgemeine ge¬ richtet war, und wenn sie auch, sei es aus Asien, sei es aus Aegypten, künst¬ lerische Traditionen erhalten hatten, welche sie mit religiöser Ehrfurcht befolg¬ ten, schöpften doch im Wesentlichen aus der Natur. Die Völker unserer Epoche betrachteten dagegen die Tradition als ihre ausschließliche Lehrmeisterin; der Gedanke, die Natur zu beobachten und aus ihr zu nehmen, war ihnen völlig fremd. Sie wußten daher auch in der Kunst nicht anders, als sie aus überlieferten Vorbildern zu erlernen und diese nachzuahmen; sie hatten dabei die Erzeugnisse der altchristlichen und spätrömischen oder allenfalls byzantini¬ schen Kunst, mithin bereits abgeleitete, halb verstandene Vorbilder vor sich, und faßten ihrerseits dieselben wieder mit halbem Verständniß auf. — Gewiß liegt in dieser Auffassung der ersten Periode des Mittelalters ein scharfer Jn- stinct für das Wesentliche; nicht minder werden wir erfreut, wenn Schnaase in der zweiten Periode desselben die Beziehungen der frühgothischen Baukunst zur Scholastik erörtert. ES versteht sich, daß ein unmittelbarer Verkehr zwischen der Bauhütte und den Lehrsälen der Philosophen nicht bestand, daß Meister und Gesellen nicht Schurzfell und Meißel ablegten, um den Disputationen zu lauschen. Aber das Bestreben der Forschung und der Geist scholastischer Distinction und Bestimmtheit theilte sich allen Classen so weit mit, als ihr Beruf dafür em¬ pfänglich war, und von keinem galt dies in höherem Grade, als von dem der Architekten. Daher denn bei ihnen das Betonen des geometrischen Elements,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/216>, abgerufen am 23.07.2024.