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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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selbst äußert, so gestehen doch in dieser Beziehung alle seine Adjutanten, daß
sie die Paraden, Lager und Feldmanöver herzlich satt sind.

Der Kaiser ist ein guter Gatte und Vater, er behandelt besonders die
Kaiserin mit der größten Aufmerksamkeit und Zartheit.

Die Reputation einer großen Enthaltsamkeit ist gänzlich usurpirt; aber
wahr ist, daß er alles Aufsehen vermeidet, und daß von einem halben Dutzend
schöner Frauen seines Hoff, von denen man voraussetzt, daß sie ihm nichts
versagt haben, auch nicht eine einzige von ihm ausgezeichnet wird, oder sich
des geringsten Einflusses rühmen kann. Solche Verhältnisse sind daher nicht
von der Art, daß sie der Eitelkeit der Frauen schmeicheln: ich habe selbst sagen
gehört, daß die Frauen sich gegen ihn jetzt zurückhaltender zeigen, als früher,
weil man die Hoffnung aufgegeben hat, des Kaisers Herz fesseln und eine
Herrschaft über ihn ausüben zu können.

Ich speiste heute an der Marschallstafel und hatte eine sehr interessante
Conversation mit meinem Nachbar, dem General Schilder*), der ein Deut¬
scher und Chef des Geniecorps ist. Suchtelen sagte von ihm: c'est, un ton
pikin alö g'Lnio.

General Schilder sagte mir: Ich kenne die südlichen Provinzen von Nu߬
land, die Ufer der Donau und die Türkei; herrliche Länder, wenn nur die
Civilisation dort festen Fuß fassen könnte; aber die Eifersucht der Mächte ver¬
hindert es. Es kann aber nicht lange so bleiben; aus den übervölkerten Pro¬
vinzen von Europa wandert man zu den Antipoden aus, während so frucht¬
bare Länder ganz in der Nähe fast unbewohnt sind. Das türkische Reich
fällt zusammen, es kann nicht 25 Jahre mehr bestehn. Da keine Macht der
andern den Besitz von Konstantinopel gönnt, wird es wol eine kleine Repu¬
blik werden unter dem Schutz der großen Mächte, wie Krakau oder Hamburg;
ich sehe keinen andern Ausweg. So der General Schilder. --

Dann fuhr er fort: Ich habe recht wohl begriffen, wie die holländische
Armee vor Brüssel einen Enden erleiden konnte; wer da weiß, was ein Volks¬
krieg ist, wird nie ein hartes Urtheil fällen. Habe ich doch in Polen gesehen,
wie wenig gefehlt hat, daß der polnische Aufstand die große russische Macht
gebrochen hätte. Drei blutige Schlachten sind geliefert worden; hätte Chlopicky
einen entschiedenen politischen Charakter gehabt, hätte er nicht gezögert und
geschwankt, hätte er die Successe verfolgt in dem Augenblick, wo Litthauen in
Gährung und das dritte (litthauische) Armeecorps auf dem Punkte war, über¬
zugehen, -- Polen und Litthauen waren für uns verloren. Und selbst der
Sturm auf Warschau ist nur darum gelungen, weil die Polen fest überzeugt
waren, daß wir ihn nicht wagen würden, und daher ein Drittheil ihrer Armee
über die Weichsel detachirt hatten.



General Schilder blieb am 13. Juni t8Vi> vor Silistria.

selbst äußert, so gestehen doch in dieser Beziehung alle seine Adjutanten, daß
sie die Paraden, Lager und Feldmanöver herzlich satt sind.

Der Kaiser ist ein guter Gatte und Vater, er behandelt besonders die
Kaiserin mit der größten Aufmerksamkeit und Zartheit.

Die Reputation einer großen Enthaltsamkeit ist gänzlich usurpirt; aber
wahr ist, daß er alles Aufsehen vermeidet, und daß von einem halben Dutzend
schöner Frauen seines Hoff, von denen man voraussetzt, daß sie ihm nichts
versagt haben, auch nicht eine einzige von ihm ausgezeichnet wird, oder sich
des geringsten Einflusses rühmen kann. Solche Verhältnisse sind daher nicht
von der Art, daß sie der Eitelkeit der Frauen schmeicheln: ich habe selbst sagen
gehört, daß die Frauen sich gegen ihn jetzt zurückhaltender zeigen, als früher,
weil man die Hoffnung aufgegeben hat, des Kaisers Herz fesseln und eine
Herrschaft über ihn ausüben zu können.

Ich speiste heute an der Marschallstafel und hatte eine sehr interessante
Conversation mit meinem Nachbar, dem General Schilder*), der ein Deut¬
scher und Chef des Geniecorps ist. Suchtelen sagte von ihm: c'est, un ton
pikin alö g'Lnio.

General Schilder sagte mir: Ich kenne die südlichen Provinzen von Nu߬
land, die Ufer der Donau und die Türkei; herrliche Länder, wenn nur die
Civilisation dort festen Fuß fassen könnte; aber die Eifersucht der Mächte ver¬
hindert es. Es kann aber nicht lange so bleiben; aus den übervölkerten Pro¬
vinzen von Europa wandert man zu den Antipoden aus, während so frucht¬
bare Länder ganz in der Nähe fast unbewohnt sind. Das türkische Reich
fällt zusammen, es kann nicht 25 Jahre mehr bestehn. Da keine Macht der
andern den Besitz von Konstantinopel gönnt, wird es wol eine kleine Repu¬
blik werden unter dem Schutz der großen Mächte, wie Krakau oder Hamburg;
ich sehe keinen andern Ausweg. So der General Schilder. —

Dann fuhr er fort: Ich habe recht wohl begriffen, wie die holländische
Armee vor Brüssel einen Enden erleiden konnte; wer da weiß, was ein Volks¬
krieg ist, wird nie ein hartes Urtheil fällen. Habe ich doch in Polen gesehen,
wie wenig gefehlt hat, daß der polnische Aufstand die große russische Macht
gebrochen hätte. Drei blutige Schlachten sind geliefert worden; hätte Chlopicky
einen entschiedenen politischen Charakter gehabt, hätte er nicht gezögert und
geschwankt, hätte er die Successe verfolgt in dem Augenblick, wo Litthauen in
Gährung und das dritte (litthauische) Armeecorps auf dem Punkte war, über¬
zugehen, — Polen und Litthauen waren für uns verloren. Und selbst der
Sturm auf Warschau ist nur darum gelungen, weil die Polen fest überzeugt
waren, daß wir ihn nicht wagen würden, und daher ein Drittheil ihrer Armee
über die Weichsel detachirt hatten.



General Schilder blieb am 13. Juni t8Vi> vor Silistria.
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[0172] selbst äußert, so gestehen doch in dieser Beziehung alle seine Adjutanten, daß sie die Paraden, Lager und Feldmanöver herzlich satt sind. Der Kaiser ist ein guter Gatte und Vater, er behandelt besonders die Kaiserin mit der größten Aufmerksamkeit und Zartheit. Die Reputation einer großen Enthaltsamkeit ist gänzlich usurpirt; aber wahr ist, daß er alles Aufsehen vermeidet, und daß von einem halben Dutzend schöner Frauen seines Hoff, von denen man voraussetzt, daß sie ihm nichts versagt haben, auch nicht eine einzige von ihm ausgezeichnet wird, oder sich des geringsten Einflusses rühmen kann. Solche Verhältnisse sind daher nicht von der Art, daß sie der Eitelkeit der Frauen schmeicheln: ich habe selbst sagen gehört, daß die Frauen sich gegen ihn jetzt zurückhaltender zeigen, als früher, weil man die Hoffnung aufgegeben hat, des Kaisers Herz fesseln und eine Herrschaft über ihn ausüben zu können. Ich speiste heute an der Marschallstafel und hatte eine sehr interessante Conversation mit meinem Nachbar, dem General Schilder*), der ein Deut¬ scher und Chef des Geniecorps ist. Suchtelen sagte von ihm: c'est, un ton pikin alö g'Lnio. General Schilder sagte mir: Ich kenne die südlichen Provinzen von Nu߬ land, die Ufer der Donau und die Türkei; herrliche Länder, wenn nur die Civilisation dort festen Fuß fassen könnte; aber die Eifersucht der Mächte ver¬ hindert es. Es kann aber nicht lange so bleiben; aus den übervölkerten Pro¬ vinzen von Europa wandert man zu den Antipoden aus, während so frucht¬ bare Länder ganz in der Nähe fast unbewohnt sind. Das türkische Reich fällt zusammen, es kann nicht 25 Jahre mehr bestehn. Da keine Macht der andern den Besitz von Konstantinopel gönnt, wird es wol eine kleine Repu¬ blik werden unter dem Schutz der großen Mächte, wie Krakau oder Hamburg; ich sehe keinen andern Ausweg. So der General Schilder. — Dann fuhr er fort: Ich habe recht wohl begriffen, wie die holländische Armee vor Brüssel einen Enden erleiden konnte; wer da weiß, was ein Volks¬ krieg ist, wird nie ein hartes Urtheil fällen. Habe ich doch in Polen gesehen, wie wenig gefehlt hat, daß der polnische Aufstand die große russische Macht gebrochen hätte. Drei blutige Schlachten sind geliefert worden; hätte Chlopicky einen entschiedenen politischen Charakter gehabt, hätte er nicht gezögert und geschwankt, hätte er die Successe verfolgt in dem Augenblick, wo Litthauen in Gährung und das dritte (litthauische) Armeecorps auf dem Punkte war, über¬ zugehen, — Polen und Litthauen waren für uns verloren. Und selbst der Sturm auf Warschau ist nur darum gelungen, weil die Polen fest überzeugt waren, daß wir ihn nicht wagen würden, und daher ein Drittheil ihrer Armee über die Weichsel detachirt hatten. General Schilder blieb am 13. Juni t8Vi> vor Silistria.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/172>, abgerufen am 23.07.2024.