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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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geheilt, wie das so bei katholischen Heiligen die Sitte ist. Aber die Sache
machte doch kein übermäßiges Aufsehen, bis im Jahre 1731, nachdem die
Bulle im Jahre vorher vom Parlament als Neichsgesetz eingezeichnet werden
mußte, auch seltsame Convulsionen auf dem Grabe eintraten. Mit den Hei¬
lungen hatte es nämlich doch nicht recht fort gewollt, der Erzbischof von Paris
hatte sich ins Mittel gelegt, absichtliche Täuschungen bei denselben nachgewie¬
sen und den Besuch des Grabes verboten; die Convulsionen, welche anfangs
für heilbringende Naturbestrebungen, später aber an sich schon für Wunder
erklärt wurden, sollten der Sache neuen Glanz geben. Wenn man den Be¬
hauptungen der Gegner glauben darf, so war das Ganze ein abgekartetes
Spiel und die Fanatiker unter den Jansenisten hatten einem gewissen Abbe
Bescherant die Ausführung ihrer Pläne förmlich übertragen. Dieser Mann
litt an einem Klumpfüße und an einer Verkürzung des einen Beines; durch
die Convulsionen sollte dasselbe gestreckt und dem andern gleich lang gemacht
werden. Er sagte selbst: Seit er zuerst die Wunder gesehen, habe er gezwei¬
felt, ob er sich ihnen darbieten solle; er habe gedacht, wenn er von Mont¬
pellier aus dazu sollte, aufgefordert werden, so solle das ein Zeichen sein, daß
es Gottes Wille sei. Und richtig -- ein Vetter von ihm schrieb ihm von
dort aus, er möge sich doch den Convulsionen hingeben, weil ein an ihm
geschehenes Wunder in Montpellier, wo er so bekannt sei, einen außerordent¬
lichen Eindruck machen werde. Diese Weisung habe er nun natürlich befolgt
und sich auf das Grab gelegt, aber sich anfangs aus Scham vor der ihn
umgebenden staunenden Menge wieder zurückziehen wollen, bis ihn ein Freund
mit überzeugenden Gründen festgehalten habe.

Sehr heiter und frisch kam er° täglich zweimal zum Grabe, geleitet von
zahlreichen Freunden. Man löste ihm die fest anliegenden Kleider und legte
ihn halb entkleidet auf das Grab, wo er dann die ärgsten Capriolen machte,
während umherstehende Männer und Frauen Psalmen mit schleppendem Tone
vorlasen. Einmal schlug er sich dabei ein Loch in den Kopf. Nach einer
Stunde h-orten die Zuckungen auf und das kranke Bein wurde gemessen, jedes
Mal war es um einige Linien länger geworden und die Summe dieser Linien
war, wie boshafte Gegner behaupteten, so groß , daß das kranke Bein das
gesunde micht an Lange hätte übertreffen müssen. Später wurde er verhaftet
und als Betrüger- entlarvt.

Durch diesen Bescherant und andere Convulsionärs wurde nun ein un¬
geheures Aufsehen erregt und ganz Paris drängte sich über sechs Monate
lang zu diesem seltsamen Schauspiel. "Laßt uns nach Se. Medard (dem
Kirchhofe, auf welchem das Grab war) gehen," sagten die Leute, "und die
Wunder sehen, welche Gott dort thut." Schon vor Tagesanbruch war dort
das Thor offen, am Eingange wurden Bilder, Lebensbeschreibungen und Ge-


geheilt, wie das so bei katholischen Heiligen die Sitte ist. Aber die Sache
machte doch kein übermäßiges Aufsehen, bis im Jahre 1731, nachdem die
Bulle im Jahre vorher vom Parlament als Neichsgesetz eingezeichnet werden
mußte, auch seltsame Convulsionen auf dem Grabe eintraten. Mit den Hei¬
lungen hatte es nämlich doch nicht recht fort gewollt, der Erzbischof von Paris
hatte sich ins Mittel gelegt, absichtliche Täuschungen bei denselben nachgewie¬
sen und den Besuch des Grabes verboten; die Convulsionen, welche anfangs
für heilbringende Naturbestrebungen, später aber an sich schon für Wunder
erklärt wurden, sollten der Sache neuen Glanz geben. Wenn man den Be¬
hauptungen der Gegner glauben darf, so war das Ganze ein abgekartetes
Spiel und die Fanatiker unter den Jansenisten hatten einem gewissen Abbe
Bescherant die Ausführung ihrer Pläne förmlich übertragen. Dieser Mann
litt an einem Klumpfüße und an einer Verkürzung des einen Beines; durch
die Convulsionen sollte dasselbe gestreckt und dem andern gleich lang gemacht
werden. Er sagte selbst: Seit er zuerst die Wunder gesehen, habe er gezwei¬
felt, ob er sich ihnen darbieten solle; er habe gedacht, wenn er von Mont¬
pellier aus dazu sollte, aufgefordert werden, so solle das ein Zeichen sein, daß
es Gottes Wille sei. Und richtig — ein Vetter von ihm schrieb ihm von
dort aus, er möge sich doch den Convulsionen hingeben, weil ein an ihm
geschehenes Wunder in Montpellier, wo er so bekannt sei, einen außerordent¬
lichen Eindruck machen werde. Diese Weisung habe er nun natürlich befolgt
und sich auf das Grab gelegt, aber sich anfangs aus Scham vor der ihn
umgebenden staunenden Menge wieder zurückziehen wollen, bis ihn ein Freund
mit überzeugenden Gründen festgehalten habe.

Sehr heiter und frisch kam er° täglich zweimal zum Grabe, geleitet von
zahlreichen Freunden. Man löste ihm die fest anliegenden Kleider und legte
ihn halb entkleidet auf das Grab, wo er dann die ärgsten Capriolen machte,
während umherstehende Männer und Frauen Psalmen mit schleppendem Tone
vorlasen. Einmal schlug er sich dabei ein Loch in den Kopf. Nach einer
Stunde h-orten die Zuckungen auf und das kranke Bein wurde gemessen, jedes
Mal war es um einige Linien länger geworden und die Summe dieser Linien
war, wie boshafte Gegner behaupteten, so groß , daß das kranke Bein das
gesunde micht an Lange hätte übertreffen müssen. Später wurde er verhaftet
und als Betrüger- entlarvt.

Durch diesen Bescherant und andere Convulsionärs wurde nun ein un¬
geheures Aufsehen erregt und ganz Paris drängte sich über sechs Monate
lang zu diesem seltsamen Schauspiel. „Laßt uns nach Se. Medard (dem
Kirchhofe, auf welchem das Grab war) gehen," sagten die Leute, „und die
Wunder sehen, welche Gott dort thut." Schon vor Tagesanbruch war dort
das Thor offen, am Eingange wurden Bilder, Lebensbeschreibungen und Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/160>, abgerufen am 23.07.2024.