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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Ob aber mit einer derartigen Praxis der Jsolirung ein Staatsorganismus
lebensfähig zu restauriren ist, ob sich Hessen-Darmstadt als organische Noth¬
wendigkeit süddeutscher Lebensgestaltungen erhält, diese Frage zu beantworten,
bleibe dem Leser überlassen.




Fromme Gmmemeil.
1. Die Convulsionäre.

Wir sahen vor kurzem, daß ein bedeutender Naturforscher den Materia¬
lismus eine Volkskrankheit nannte und warfen ihm vor, daß er keinen klaren
Begriff von einer solchen besitze. Um diesen Vorwurf zu rechtfertigen, geben
wir heute eine Beschreibung von einer der bekanntesten sogenannten psychischen
Epidemien, und stellen es dabei der Beurtheilung der Leser anheim, ob sie
Zwischen dieser und dem Materialismus irgend eine Aehnlichkeit herausfinden
können. Die Sache hat aber noch eine andere Seite, denn trotz der viel¬
gerühmten Ausklärung hat nicht allein vor etwa fünfzehn Jahren in Schweden
die damals oft genannte Predigerkrankheit gespielt, sondern noch später und
näher, in Baden, in der Pfalz, in der Schweiz, sind verwandte Erscheinungen
vorgekommen. An vielen Orten sind die Verhältnisse der Erneuerung derselben
günstig und deshalb hat die Kenntniß solcher Vorgänge ein unmittelbares und
gegenwärtiges Interesse.

Die Vorgänge, welche wir uns sür heute zu besprechen vorgenommen,
betreffen die Convulsionen auf dem Grabe des heiligen Paris, welche in Paris
im Jahre 1727 begannen und deren letzte Spuren noch im Jahre -1824 vor¬
handen gewesen sein sollen. Die französische Kirche war schon lange in Zwie¬
spalt gerathen und es standen bekanntlich unter Ludwig XlV. die Parteien der
Jansenisten und der Jesuiten einander schroff gegenüber. Der Papst, in Ver¬
bindung mit den am französischen Hofe herrschenden Jesuiten, unterdrückte aber
den Jansenismus und that den entschiedensten Schritt dazu durch den Erlaß
der Bulle "vluxeMus" (^3), wodurch die wichtigsten jansenistischen Bekennt¬
nißschriften verdammt wurden. Die Jansenisten, von welchen nunmehr die
Anerkennung dieser Bulle gefordert wurde, kamen dadurch in ein arges Ge¬
dränge und da griffen sie zu dem Auskunftsmittel, eine Reihe von Wundern
erscheinen zu lassen, welche Gott selbst zum Zeugniß ihrer Unschuld, Recht¬
gläubigkeit und Frömmigkeit gewirkt haben sollte. Die Veranlassung dazu gab
der Tod eines ihrer Anhänger, des Ascetikers Franyois de Paris (1727),
welcher im Geruch der Heiligkeit gestanden hatte. Kaum war er begraben, so
wurden einige Frauenzimmer ans seinem Grabe von verschiedenen Krankheiten


Ob aber mit einer derartigen Praxis der Jsolirung ein Staatsorganismus
lebensfähig zu restauriren ist, ob sich Hessen-Darmstadt als organische Noth¬
wendigkeit süddeutscher Lebensgestaltungen erhält, diese Frage zu beantworten,
bleibe dem Leser überlassen.




Fromme Gmmemeil.
1. Die Convulsionäre.

Wir sahen vor kurzem, daß ein bedeutender Naturforscher den Materia¬
lismus eine Volkskrankheit nannte und warfen ihm vor, daß er keinen klaren
Begriff von einer solchen besitze. Um diesen Vorwurf zu rechtfertigen, geben
wir heute eine Beschreibung von einer der bekanntesten sogenannten psychischen
Epidemien, und stellen es dabei der Beurtheilung der Leser anheim, ob sie
Zwischen dieser und dem Materialismus irgend eine Aehnlichkeit herausfinden
können. Die Sache hat aber noch eine andere Seite, denn trotz der viel¬
gerühmten Ausklärung hat nicht allein vor etwa fünfzehn Jahren in Schweden
die damals oft genannte Predigerkrankheit gespielt, sondern noch später und
näher, in Baden, in der Pfalz, in der Schweiz, sind verwandte Erscheinungen
vorgekommen. An vielen Orten sind die Verhältnisse der Erneuerung derselben
günstig und deshalb hat die Kenntniß solcher Vorgänge ein unmittelbares und
gegenwärtiges Interesse.

Die Vorgänge, welche wir uns sür heute zu besprechen vorgenommen,
betreffen die Convulsionen auf dem Grabe des heiligen Paris, welche in Paris
im Jahre 1727 begannen und deren letzte Spuren noch im Jahre -1824 vor¬
handen gewesen sein sollen. Die französische Kirche war schon lange in Zwie¬
spalt gerathen und es standen bekanntlich unter Ludwig XlV. die Parteien der
Jansenisten und der Jesuiten einander schroff gegenüber. Der Papst, in Ver¬
bindung mit den am französischen Hofe herrschenden Jesuiten, unterdrückte aber
den Jansenismus und that den entschiedensten Schritt dazu durch den Erlaß
der Bulle „vluxeMus" (^3), wodurch die wichtigsten jansenistischen Bekennt¬
nißschriften verdammt wurden. Die Jansenisten, von welchen nunmehr die
Anerkennung dieser Bulle gefordert wurde, kamen dadurch in ein arges Ge¬
dränge und da griffen sie zu dem Auskunftsmittel, eine Reihe von Wundern
erscheinen zu lassen, welche Gott selbst zum Zeugniß ihrer Unschuld, Recht¬
gläubigkeit und Frömmigkeit gewirkt haben sollte. Die Veranlassung dazu gab
der Tod eines ihrer Anhänger, des Ascetikers Franyois de Paris (1727),
welcher im Geruch der Heiligkeit gestanden hatte. Kaum war er begraben, so
wurden einige Frauenzimmer ans seinem Grabe von verschiedenen Krankheiten


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[0159] Ob aber mit einer derartigen Praxis der Jsolirung ein Staatsorganismus lebensfähig zu restauriren ist, ob sich Hessen-Darmstadt als organische Noth¬ wendigkeit süddeutscher Lebensgestaltungen erhält, diese Frage zu beantworten, bleibe dem Leser überlassen. Fromme Gmmemeil. 1. Die Convulsionäre. Wir sahen vor kurzem, daß ein bedeutender Naturforscher den Materia¬ lismus eine Volkskrankheit nannte und warfen ihm vor, daß er keinen klaren Begriff von einer solchen besitze. Um diesen Vorwurf zu rechtfertigen, geben wir heute eine Beschreibung von einer der bekanntesten sogenannten psychischen Epidemien, und stellen es dabei der Beurtheilung der Leser anheim, ob sie Zwischen dieser und dem Materialismus irgend eine Aehnlichkeit herausfinden können. Die Sache hat aber noch eine andere Seite, denn trotz der viel¬ gerühmten Ausklärung hat nicht allein vor etwa fünfzehn Jahren in Schweden die damals oft genannte Predigerkrankheit gespielt, sondern noch später und näher, in Baden, in der Pfalz, in der Schweiz, sind verwandte Erscheinungen vorgekommen. An vielen Orten sind die Verhältnisse der Erneuerung derselben günstig und deshalb hat die Kenntniß solcher Vorgänge ein unmittelbares und gegenwärtiges Interesse. Die Vorgänge, welche wir uns sür heute zu besprechen vorgenommen, betreffen die Convulsionen auf dem Grabe des heiligen Paris, welche in Paris im Jahre 1727 begannen und deren letzte Spuren noch im Jahre -1824 vor¬ handen gewesen sein sollen. Die französische Kirche war schon lange in Zwie¬ spalt gerathen und es standen bekanntlich unter Ludwig XlV. die Parteien der Jansenisten und der Jesuiten einander schroff gegenüber. Der Papst, in Ver¬ bindung mit den am französischen Hofe herrschenden Jesuiten, unterdrückte aber den Jansenismus und that den entschiedensten Schritt dazu durch den Erlaß der Bulle „vluxeMus" (^3), wodurch die wichtigsten jansenistischen Bekennt¬ nißschriften verdammt wurden. Die Jansenisten, von welchen nunmehr die Anerkennung dieser Bulle gefordert wurde, kamen dadurch in ein arges Ge¬ dränge und da griffen sie zu dem Auskunftsmittel, eine Reihe von Wundern erscheinen zu lassen, welche Gott selbst zum Zeugniß ihrer Unschuld, Recht¬ gläubigkeit und Frömmigkeit gewirkt haben sollte. Die Veranlassung dazu gab der Tod eines ihrer Anhänger, des Ascetikers Franyois de Paris (1727), welcher im Geruch der Heiligkeit gestanden hatte. Kaum war er begraben, so wurden einige Frauenzimmer ans seinem Grabe von verschiedenen Krankheiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/159>, abgerufen am 23.07.2024.