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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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wisferei zu werden: der Studirende mache es dem Reisenden gleich, der manche
Länder und Städte im Fluge durcheilt, um nur eine Anschauung zu gewinnen,
in wichtigern.länger verweilt, um sie näher kennen zu lernen, und sich endlich
zu bleibender Thätigkeit an irgend einem Orte fest niederläßt. Eine große
Zahl seiner Bücher verdankt demselben Streben ihre Entstehung. Zunächst
die Chrestomathien, lateinische und griechische.

Aber nicht allein durch diese pädagogischen Bücher wirkte er auf die Ver"
bcsserung des Unterrichts ein, sondern wir dürfen behaupten, daß er zuerst die
richtigen Grundsätze der Erklärung alter Schriftsteller aufstellte und befolgte.
Während bei Richard Bentley die Kritik überwiegt und in spätern Arbeiten in
subjektive Willkür übergeht, bei den Holländern aber, selbst bei I. Fr. Gronov
und T. Hemsterhuis, neben der Kritik das Streben hervortritt, den Schriftsteller
als Gelegenheit zu gründlichen Erörterungen sprachlicher Gesetze, mehr noch
einzelner Punkte aus den Alterthümern zu benutzen, so sehn wir bei
Gesner nach und nach die Methode der wahren Erklärung, stets nur das
Verständniß des vorliegenden Schriftstellers, aber auch das ganze, nach Form
und Inhalt, im Auge zu behalten, sich immer mehr herausarbeiten und
vollenden.

Zwar Kritik ist seine schwache Seite. Wie er in seinem ganzen Leben
bei dem Außerordentlichen, auch wenn er es später als groß und. schön er¬
kannte, zuerst Bedenken hatte, so scheut er sich vor Aenderungen und Ver¬
muthungen, er zieht eine Lösung der Schwierigkeit durch Erklärung vor. In¬
dessen rühren eine Menge schöner Verbesserungen, die jetzt allgemein anerkannt
sind, von Gesner her. Aber gibt es richtigere Grundsätze sür die Erklärung,
als die in der Vorrede zum Claudianus (17ö9) aufgestellte"? Ich habe, sagt
er, meine Bemerkungen gegeben, nicht um meine Gelehrsamkeit zeigen zu können,
sondern um den Gedanken des Dichters zu erörtern, mochte nun etwas aus
der Tiefe der Forschung zu schöpfen sein oder gewöhnliches Wissen genügen,
mögen es andere früher, oder ich jetzt zuerst es gesagt haben. Ich habe nicht
einen dicken Commentar aufgespeichert, sondern nur das erreichen wollen, daß
man den Dichter verstehe, sodann habe ich, um den Geschmack der Jünglinge
zu bilden, was schön und würdig, wahrhaft dichterisch sei, kurz angedeutet und
ebenso getreulich auf das aufmerksam gemacht, was der Natur, den großen
Mustern, der Idee des Schönen und Guten zuwiderläuft. Sodann habe ich
offen gestanden, wo ich etwas nicht verstehe, um so die einen zu trösten, wenn
sie es auch nicht verstehn, und Gelehrtere oder Glücklichere zu eignen Ver¬
suchen anzureizen. Diese Grundsätze zeigen sich schon in der Bearbeitung des
Plinius, in reinerer Anwendung bei dem Quinctilianus, aber am vollendetsten
sind sie im Claudianus selbst durchgeführt. Wären nur diese Sätze und Vor¬
bilder von neuern Philologen immer beherzigt und befolgt worden, wir würden


wisferei zu werden: der Studirende mache es dem Reisenden gleich, der manche
Länder und Städte im Fluge durcheilt, um nur eine Anschauung zu gewinnen,
in wichtigern.länger verweilt, um sie näher kennen zu lernen, und sich endlich
zu bleibender Thätigkeit an irgend einem Orte fest niederläßt. Eine große
Zahl seiner Bücher verdankt demselben Streben ihre Entstehung. Zunächst
die Chrestomathien, lateinische und griechische.

Aber nicht allein durch diese pädagogischen Bücher wirkte er auf die Ver«
bcsserung des Unterrichts ein, sondern wir dürfen behaupten, daß er zuerst die
richtigen Grundsätze der Erklärung alter Schriftsteller aufstellte und befolgte.
Während bei Richard Bentley die Kritik überwiegt und in spätern Arbeiten in
subjektive Willkür übergeht, bei den Holländern aber, selbst bei I. Fr. Gronov
und T. Hemsterhuis, neben der Kritik das Streben hervortritt, den Schriftsteller
als Gelegenheit zu gründlichen Erörterungen sprachlicher Gesetze, mehr noch
einzelner Punkte aus den Alterthümern zu benutzen, so sehn wir bei
Gesner nach und nach die Methode der wahren Erklärung, stets nur das
Verständniß des vorliegenden Schriftstellers, aber auch das ganze, nach Form
und Inhalt, im Auge zu behalten, sich immer mehr herausarbeiten und
vollenden.

Zwar Kritik ist seine schwache Seite. Wie er in seinem ganzen Leben
bei dem Außerordentlichen, auch wenn er es später als groß und. schön er¬
kannte, zuerst Bedenken hatte, so scheut er sich vor Aenderungen und Ver¬
muthungen, er zieht eine Lösung der Schwierigkeit durch Erklärung vor. In¬
dessen rühren eine Menge schöner Verbesserungen, die jetzt allgemein anerkannt
sind, von Gesner her. Aber gibt es richtigere Grundsätze sür die Erklärung,
als die in der Vorrede zum Claudianus (17ö9) aufgestellte»? Ich habe, sagt
er, meine Bemerkungen gegeben, nicht um meine Gelehrsamkeit zeigen zu können,
sondern um den Gedanken des Dichters zu erörtern, mochte nun etwas aus
der Tiefe der Forschung zu schöpfen sein oder gewöhnliches Wissen genügen,
mögen es andere früher, oder ich jetzt zuerst es gesagt haben. Ich habe nicht
einen dicken Commentar aufgespeichert, sondern nur das erreichen wollen, daß
man den Dichter verstehe, sodann habe ich, um den Geschmack der Jünglinge
zu bilden, was schön und würdig, wahrhaft dichterisch sei, kurz angedeutet und
ebenso getreulich auf das aufmerksam gemacht, was der Natur, den großen
Mustern, der Idee des Schönen und Guten zuwiderläuft. Sodann habe ich
offen gestanden, wo ich etwas nicht verstehe, um so die einen zu trösten, wenn
sie es auch nicht verstehn, und Gelehrtere oder Glücklichere zu eignen Ver¬
suchen anzureizen. Diese Grundsätze zeigen sich schon in der Bearbeitung des
Plinius, in reinerer Anwendung bei dem Quinctilianus, aber am vollendetsten
sind sie im Claudianus selbst durchgeführt. Wären nur diese Sätze und Vor¬
bilder von neuern Philologen immer beherzigt und befolgt worden, wir würden


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[0141] wisferei zu werden: der Studirende mache es dem Reisenden gleich, der manche Länder und Städte im Fluge durcheilt, um nur eine Anschauung zu gewinnen, in wichtigern.länger verweilt, um sie näher kennen zu lernen, und sich endlich zu bleibender Thätigkeit an irgend einem Orte fest niederläßt. Eine große Zahl seiner Bücher verdankt demselben Streben ihre Entstehung. Zunächst die Chrestomathien, lateinische und griechische. Aber nicht allein durch diese pädagogischen Bücher wirkte er auf die Ver« bcsserung des Unterrichts ein, sondern wir dürfen behaupten, daß er zuerst die richtigen Grundsätze der Erklärung alter Schriftsteller aufstellte und befolgte. Während bei Richard Bentley die Kritik überwiegt und in spätern Arbeiten in subjektive Willkür übergeht, bei den Holländern aber, selbst bei I. Fr. Gronov und T. Hemsterhuis, neben der Kritik das Streben hervortritt, den Schriftsteller als Gelegenheit zu gründlichen Erörterungen sprachlicher Gesetze, mehr noch einzelner Punkte aus den Alterthümern zu benutzen, so sehn wir bei Gesner nach und nach die Methode der wahren Erklärung, stets nur das Verständniß des vorliegenden Schriftstellers, aber auch das ganze, nach Form und Inhalt, im Auge zu behalten, sich immer mehr herausarbeiten und vollenden. Zwar Kritik ist seine schwache Seite. Wie er in seinem ganzen Leben bei dem Außerordentlichen, auch wenn er es später als groß und. schön er¬ kannte, zuerst Bedenken hatte, so scheut er sich vor Aenderungen und Ver¬ muthungen, er zieht eine Lösung der Schwierigkeit durch Erklärung vor. In¬ dessen rühren eine Menge schöner Verbesserungen, die jetzt allgemein anerkannt sind, von Gesner her. Aber gibt es richtigere Grundsätze sür die Erklärung, als die in der Vorrede zum Claudianus (17ö9) aufgestellte»? Ich habe, sagt er, meine Bemerkungen gegeben, nicht um meine Gelehrsamkeit zeigen zu können, sondern um den Gedanken des Dichters zu erörtern, mochte nun etwas aus der Tiefe der Forschung zu schöpfen sein oder gewöhnliches Wissen genügen, mögen es andere früher, oder ich jetzt zuerst es gesagt haben. Ich habe nicht einen dicken Commentar aufgespeichert, sondern nur das erreichen wollen, daß man den Dichter verstehe, sodann habe ich, um den Geschmack der Jünglinge zu bilden, was schön und würdig, wahrhaft dichterisch sei, kurz angedeutet und ebenso getreulich auf das aufmerksam gemacht, was der Natur, den großen Mustern, der Idee des Schönen und Guten zuwiderläuft. Sodann habe ich offen gestanden, wo ich etwas nicht verstehe, um so die einen zu trösten, wenn sie es auch nicht verstehn, und Gelehrtere oder Glücklichere zu eignen Ver¬ suchen anzureizen. Diese Grundsätze zeigen sich schon in der Bearbeitung des Plinius, in reinerer Anwendung bei dem Quinctilianus, aber am vollendetsten sind sie im Claudianus selbst durchgeführt. Wären nur diese Sätze und Vor¬ bilder von neuern Philologen immer beherzigt und befolgt worden, wir würden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/141>, abgerufen am 23.07.2024.