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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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wunderbares Streben nach sogenannter feiner Bildung gestellt, was nur. zu
häusig in den ungeschicktesten Versuchen sich kundthat. > Das Griechische war
auf den Gymnasien so gut als unbekannt, als Muster des lateinischen Stils
bewunderte man Büchners gezierte und schwülstige Reden. Wie die Alten
behandelt wurden, dafür genügt ein Beispiel anzuführen, was Gesner selbst
' erzählt. Eine Anzahl Studirender in Jena baten einen angesehenen und
kenntnißreichen Professor, Jo. G. Müller, ihnen Aristoteles Rhetorik zu erklä¬
ren; da brachte dieser mit einer Erklärung dessen, was Rhetorik sei, drei, und
mit der Erörterung eines einzelnen Wortes im ersten Satze der aristotelischen
Schrift vier Stunden zu. Freilich erreichte er dadurch, daß die Studenten
genug hatten und nicht wiederkamen.

Diese Lage der Dinge müssen wir uns vergegenwärtigen, um zu begreifen,
welche bedeutende Erscheinung eS war, als Gesner 1713 in seinem vierund¬
zwanzigsten Jahre mit seinem Werk: Grundzüge der Pädagogik, auftrat. Das
Larein ist rein und geschmackvoll, die Darstellung klar und einfach, ohne
irgend ein Citat und gelehrten Apparat, das Urtheil des jungen Mannes, der
noch an keiner Anstalt als Lehrer thätig gewesen war, fest und reif, in vielen
Punkten von überraschender Tiefe und Wahrheit. Schon in diesem Buche
sind die Hauptzüge dessen enthalten, was Gesner später durch sein Beispiel
und durch Bücher aller Art festzustellen und durchzuführen bemüht war.

Als seine Grundsätze lassen sich folgende bezeichnen. Man lasse nicht
einen langen grammatischen Unterricht vorausgehn, sondern gehe nach der
Mittheilung des Allernöthigsten sofort an das Lesen und suche durch dies nach
und nach die Sicherheit der grammatischen Kenntnisse zu erreichen. Man
achte bei der Auswahl der zu lesenden Schriften stets auf den Inhalt, daß
durch denselben der Geist des Schülers mit Kenntnissen mannigfacher Art be¬
reichert, mit Liebe zur Tugend und allem Schönen erfüllt werde. Nur wenige
bedeutende Stücke lese man langsam und erkläre sie so, daß man auf alle
Schwierigkeiten aufmerksam macht, die für das vollständige Verständniß eines
Schriftstellers zu überwinden sind, alles Andre lese man rasch, um zu einem
Verständniß des Ganzen zu gelangen und den Geist durch die Fülle des
Stoffs zu nähren. Man suche frühzeitig den Blick des Schülers zu erweitern,
ihm den Zugang zur Geschichte, zu mathematischen, physikalischen, natur¬
geschichtlichen Kenntnissen zu eröffnen. Eine Vielseitigkeit des Wissens, sagt
er, ist nöthig, weil alle Wissenschaften in einem engen Zusammenhang stehn
und keine sich allein verstehn und erfassen läßt, weil ferner der Geist ohne eine
gewisse Ausdehnung der Kenntnisse allzuleicht, wie wir es an den Scholastikern
sehn, sich in unnütze Grübeleien und spielende Spitzfindigkeiten verirrt, endlich
weil man ohne eine gewisse Weite des Gesichtskreises die eigne Beschäftigung
ungerecht überschätzt. Aus der Vielseitigkeit des Wissens braucht nicht Viel-


wunderbares Streben nach sogenannter feiner Bildung gestellt, was nur. zu
häusig in den ungeschicktesten Versuchen sich kundthat. > Das Griechische war
auf den Gymnasien so gut als unbekannt, als Muster des lateinischen Stils
bewunderte man Büchners gezierte und schwülstige Reden. Wie die Alten
behandelt wurden, dafür genügt ein Beispiel anzuführen, was Gesner selbst
' erzählt. Eine Anzahl Studirender in Jena baten einen angesehenen und
kenntnißreichen Professor, Jo. G. Müller, ihnen Aristoteles Rhetorik zu erklä¬
ren; da brachte dieser mit einer Erklärung dessen, was Rhetorik sei, drei, und
mit der Erörterung eines einzelnen Wortes im ersten Satze der aristotelischen
Schrift vier Stunden zu. Freilich erreichte er dadurch, daß die Studenten
genug hatten und nicht wiederkamen.

Diese Lage der Dinge müssen wir uns vergegenwärtigen, um zu begreifen,
welche bedeutende Erscheinung eS war, als Gesner 1713 in seinem vierund¬
zwanzigsten Jahre mit seinem Werk: Grundzüge der Pädagogik, auftrat. Das
Larein ist rein und geschmackvoll, die Darstellung klar und einfach, ohne
irgend ein Citat und gelehrten Apparat, das Urtheil des jungen Mannes, der
noch an keiner Anstalt als Lehrer thätig gewesen war, fest und reif, in vielen
Punkten von überraschender Tiefe und Wahrheit. Schon in diesem Buche
sind die Hauptzüge dessen enthalten, was Gesner später durch sein Beispiel
und durch Bücher aller Art festzustellen und durchzuführen bemüht war.

Als seine Grundsätze lassen sich folgende bezeichnen. Man lasse nicht
einen langen grammatischen Unterricht vorausgehn, sondern gehe nach der
Mittheilung des Allernöthigsten sofort an das Lesen und suche durch dies nach
und nach die Sicherheit der grammatischen Kenntnisse zu erreichen. Man
achte bei der Auswahl der zu lesenden Schriften stets auf den Inhalt, daß
durch denselben der Geist des Schülers mit Kenntnissen mannigfacher Art be¬
reichert, mit Liebe zur Tugend und allem Schönen erfüllt werde. Nur wenige
bedeutende Stücke lese man langsam und erkläre sie so, daß man auf alle
Schwierigkeiten aufmerksam macht, die für das vollständige Verständniß eines
Schriftstellers zu überwinden sind, alles Andre lese man rasch, um zu einem
Verständniß des Ganzen zu gelangen und den Geist durch die Fülle des
Stoffs zu nähren. Man suche frühzeitig den Blick des Schülers zu erweitern,
ihm den Zugang zur Geschichte, zu mathematischen, physikalischen, natur¬
geschichtlichen Kenntnissen zu eröffnen. Eine Vielseitigkeit des Wissens, sagt
er, ist nöthig, weil alle Wissenschaften in einem engen Zusammenhang stehn
und keine sich allein verstehn und erfassen läßt, weil ferner der Geist ohne eine
gewisse Ausdehnung der Kenntnisse allzuleicht, wie wir es an den Scholastikern
sehn, sich in unnütze Grübeleien und spielende Spitzfindigkeiten verirrt, endlich
weil man ohne eine gewisse Weite des Gesichtskreises die eigne Beschäftigung
ungerecht überschätzt. Aus der Vielseitigkeit des Wissens braucht nicht Viel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/140>, abgerufen am 23.07.2024.