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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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ihm ein Sohn und eine Tochter geboren waren, galt es freilich bei geringem
Einkommen Haus zu halten, aber Gesners Heiterkeit war immer gleich, und
es sind freundliche Züge eines Stilllebens, sich Gesner in dem Conrectorat
hinter der Kirche zu denken, wie er in der Familienstube eifrig arbeitet, mit
der einen Hand schreibt, mit der andern die Wiege bewegt, oder wie die Frau
die Kleider der Kinder eifrig flickt, um ihnen aber die Kleider in diesen Ge¬
staltungen genehm zu machen, die aufzusetzenden Flecke als Sonne, Mond und
Sterne zurechtschneidet und in dieser Gestalt anpreist, oder wie der dreijährige
Knabe früh zum Vater ins Bett steigt und mit den lateinischen Worten: narra
intim allauiü, rMöi-e.u1"z, ihm etwas zu erzählen bittet.

Bewährte ihn vor gelehrter Einseitigkeit schon sein eigner Trieb nach all¬
seitigem Wissen, so begünstigten äußere Verhältnisse ihn hierbei, wie wenige
Andere. Der Geheime Rath und Hofmarschall Friedrich Gotthilf von Mar¬
schall, genannt Greiff, trat in das innigste Verhältniß zu ihm.

In diesem Umgang erwarb er sich die Feinheit der Formen und Freiheit
der Bewegung, daß später niemand in dem gewandten und geistreichen Gesell¬
schafter mit dem für alles offenen Sinne den Schulmann und Gelehrten ver¬
muthete. Warschall übertrug ihm zugleich die Verwaltung der von Herzog
Wilhelm Ernst begründeten Bibliothek und Münzsammlung, und mit unermüd¬
lichem Eifer ordnete er diese und arbeitete an einem Realkatalog der Bibliothek.
Da starb der Landesfürst und sein Nachfolger Ernst August beseitigte alle,
die unter seinem Oheim Einfluß gehabt hatten, und da er gegen Marschall
besonders erbittert war, so entfernte er in feiner Leidenschaftlichkeit und Härte
sofort auch Gesner von der Bibliothek und Münzsammlung, weil, er dadurch,
wie er selbst äußerte, Marschall am tiefsten weh zu thun überzeugt war. Alle
Bitten und Vorstellungen, Gesner wenigstens den Realkatalog vollenden zu
lassen, waren umsonst.

So entschloß sich dieser rasch in den ersten Monaten des Jahres 1729
das Rectorat des Gymnasiums in Ansbach anzunehmen. Mit liebenswürdi¬
ger Bescheidenheit bat er bei seiner Einführung in Ansbach, indem er aus¬
einandersetzte, warum der Prophet in seinem Vaterland am wenig¬
sten zu gelten pflege, daß man ja von seinen Knabenstreichen nichts ver¬
rathen möge, um dem Ansehn des Rectors bei den Schülern nicht zu schaden.

Aber schon im September -1730 übernahm er das Rectorat der Thomas-
schule zu Leipzig. Hier war der Unterricht verwahrlost und die Schulzucht
tief verwildert. Statt lateinischer und griechischer Klassiker waren theologische
Compendien eingeführt; die Mehrzahl der Alumnen meldete sich als krank, oft
auf Monate und Vieteljahre, um nichts zu thun und die gute Krankenkost zu
bekommen. Doch Gesner ging mild und fest an die Umgestaltung: wer sich krank
meldete, den suchte er sogleich auf, wies ihn, bis sich das Wesen der Krank-


Grenzboten. IV. -I8S6. 17

ihm ein Sohn und eine Tochter geboren waren, galt es freilich bei geringem
Einkommen Haus zu halten, aber Gesners Heiterkeit war immer gleich, und
es sind freundliche Züge eines Stilllebens, sich Gesner in dem Conrectorat
hinter der Kirche zu denken, wie er in der Familienstube eifrig arbeitet, mit
der einen Hand schreibt, mit der andern die Wiege bewegt, oder wie die Frau
die Kleider der Kinder eifrig flickt, um ihnen aber die Kleider in diesen Ge¬
staltungen genehm zu machen, die aufzusetzenden Flecke als Sonne, Mond und
Sterne zurechtschneidet und in dieser Gestalt anpreist, oder wie der dreijährige
Knabe früh zum Vater ins Bett steigt und mit den lateinischen Worten: narra
intim allauiü, rMöi-e.u1«z, ihm etwas zu erzählen bittet.

Bewährte ihn vor gelehrter Einseitigkeit schon sein eigner Trieb nach all¬
seitigem Wissen, so begünstigten äußere Verhältnisse ihn hierbei, wie wenige
Andere. Der Geheime Rath und Hofmarschall Friedrich Gotthilf von Mar¬
schall, genannt Greiff, trat in das innigste Verhältniß zu ihm.

In diesem Umgang erwarb er sich die Feinheit der Formen und Freiheit
der Bewegung, daß später niemand in dem gewandten und geistreichen Gesell¬
schafter mit dem für alles offenen Sinne den Schulmann und Gelehrten ver¬
muthete. Warschall übertrug ihm zugleich die Verwaltung der von Herzog
Wilhelm Ernst begründeten Bibliothek und Münzsammlung, und mit unermüd¬
lichem Eifer ordnete er diese und arbeitete an einem Realkatalog der Bibliothek.
Da starb der Landesfürst und sein Nachfolger Ernst August beseitigte alle,
die unter seinem Oheim Einfluß gehabt hatten, und da er gegen Marschall
besonders erbittert war, so entfernte er in feiner Leidenschaftlichkeit und Härte
sofort auch Gesner von der Bibliothek und Münzsammlung, weil, er dadurch,
wie er selbst äußerte, Marschall am tiefsten weh zu thun überzeugt war. Alle
Bitten und Vorstellungen, Gesner wenigstens den Realkatalog vollenden zu
lassen, waren umsonst.

So entschloß sich dieser rasch in den ersten Monaten des Jahres 1729
das Rectorat des Gymnasiums in Ansbach anzunehmen. Mit liebenswürdi¬
ger Bescheidenheit bat er bei seiner Einführung in Ansbach, indem er aus¬
einandersetzte, warum der Prophet in seinem Vaterland am wenig¬
sten zu gelten pflege, daß man ja von seinen Knabenstreichen nichts ver¬
rathen möge, um dem Ansehn des Rectors bei den Schülern nicht zu schaden.

Aber schon im September -1730 übernahm er das Rectorat der Thomas-
schule zu Leipzig. Hier war der Unterricht verwahrlost und die Schulzucht
tief verwildert. Statt lateinischer und griechischer Klassiker waren theologische
Compendien eingeführt; die Mehrzahl der Alumnen meldete sich als krank, oft
auf Monate und Vieteljahre, um nichts zu thun und die gute Krankenkost zu
bekommen. Doch Gesner ging mild und fest an die Umgestaltung: wer sich krank
meldete, den suchte er sogleich auf, wies ihn, bis sich das Wesen der Krank-


Grenzboten. IV. -I8S6. 17
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[0137] ihm ein Sohn und eine Tochter geboren waren, galt es freilich bei geringem Einkommen Haus zu halten, aber Gesners Heiterkeit war immer gleich, und es sind freundliche Züge eines Stilllebens, sich Gesner in dem Conrectorat hinter der Kirche zu denken, wie er in der Familienstube eifrig arbeitet, mit der einen Hand schreibt, mit der andern die Wiege bewegt, oder wie die Frau die Kleider der Kinder eifrig flickt, um ihnen aber die Kleider in diesen Ge¬ staltungen genehm zu machen, die aufzusetzenden Flecke als Sonne, Mond und Sterne zurechtschneidet und in dieser Gestalt anpreist, oder wie der dreijährige Knabe früh zum Vater ins Bett steigt und mit den lateinischen Worten: narra intim allauiü, rMöi-e.u1«z, ihm etwas zu erzählen bittet. Bewährte ihn vor gelehrter Einseitigkeit schon sein eigner Trieb nach all¬ seitigem Wissen, so begünstigten äußere Verhältnisse ihn hierbei, wie wenige Andere. Der Geheime Rath und Hofmarschall Friedrich Gotthilf von Mar¬ schall, genannt Greiff, trat in das innigste Verhältniß zu ihm. In diesem Umgang erwarb er sich die Feinheit der Formen und Freiheit der Bewegung, daß später niemand in dem gewandten und geistreichen Gesell¬ schafter mit dem für alles offenen Sinne den Schulmann und Gelehrten ver¬ muthete. Warschall übertrug ihm zugleich die Verwaltung der von Herzog Wilhelm Ernst begründeten Bibliothek und Münzsammlung, und mit unermüd¬ lichem Eifer ordnete er diese und arbeitete an einem Realkatalog der Bibliothek. Da starb der Landesfürst und sein Nachfolger Ernst August beseitigte alle, die unter seinem Oheim Einfluß gehabt hatten, und da er gegen Marschall besonders erbittert war, so entfernte er in feiner Leidenschaftlichkeit und Härte sofort auch Gesner von der Bibliothek und Münzsammlung, weil, er dadurch, wie er selbst äußerte, Marschall am tiefsten weh zu thun überzeugt war. Alle Bitten und Vorstellungen, Gesner wenigstens den Realkatalog vollenden zu lassen, waren umsonst. So entschloß sich dieser rasch in den ersten Monaten des Jahres 1729 das Rectorat des Gymnasiums in Ansbach anzunehmen. Mit liebenswürdi¬ ger Bescheidenheit bat er bei seiner Einführung in Ansbach, indem er aus¬ einandersetzte, warum der Prophet in seinem Vaterland am wenig¬ sten zu gelten pflege, daß man ja von seinen Knabenstreichen nichts ver¬ rathen möge, um dem Ansehn des Rectors bei den Schülern nicht zu schaden. Aber schon im September -1730 übernahm er das Rectorat der Thomas- schule zu Leipzig. Hier war der Unterricht verwahrlost und die Schulzucht tief verwildert. Statt lateinischer und griechischer Klassiker waren theologische Compendien eingeführt; die Mehrzahl der Alumnen meldete sich als krank, oft auf Monate und Vieteljahre, um nichts zu thun und die gute Krankenkost zu bekommen. Doch Gesner ging mild und fest an die Umgestaltung: wer sich krank meldete, den suchte er sogleich auf, wies ihn, bis sich das Wesen der Krank- Grenzboten. IV. -I8S6. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/137>, abgerufen am 23.07.2024.