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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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eines naßkalten Nebels zu lasten scheint. Mühsam schleppen sich die Menschen
unter dem Druck der Gewöhnlichkeit durch sie hin, und die Geschichte pflegt
den Gesammteindruck derselben in wenigen Zügen zusammenzufassen, um zu
dankbareren Entwicklungen und Verhältnissen zu gelangen.

Dennoch enthalten grade diese Zeiten für den aufmerksameren. Beobachter
Anlaß genug zu gründlicher Forschung und belohnen sorgfältige Untersuchungen
durch unerwartete Aufschlüsse und Ergebnisse. Denn in solch trüben Zeiten ent¬
stehen und entwickeln sich allmälig die Keime der Gedanken, die dann zum
Leben erwacht das Wesen der großen Zeiten ausmachen. Nicht auf einmal,
wie aus dem Haupte des Zeus Athene, treten große Ideen ins Leben ein:
leise und dunkle Ahnungen, Kampf mit Verspottung und Gewalt, eignes und
fremdes Mißverständniß, vergebliche Versuche unendlichen Mühens gehn in
längerer oder kürzerer Dauer voraus. Und auch solche Zeit ist nicht ganz
arm an Heroen, die, ohne von Zeit und Mitwelt erwärmt und gefördert zu
werden, mit um so größerer Festigkeit des Willens und ruhiger Entsagung
Die Gegenwart in sich überwinden und die Zukunft bereiten.

Man kann in gewisser Weise alle Menschen in solche der Vergangenheit
und Erinnerung, der Befriedigung oder Gegenwart, und endlich der Sehnsucht
und Zukunft eintheilen. Solche Menschen der Sehnsucht treten uns grade in
jenen kahlen und leeren Perioden bei näherem Zusehn herzerfrischend entgegen,
und Dankbarkeit gebietet uns, ihre Gestalten aus dem Dunkel hervorzuziehen
und ihr Andenken zu retten.'

Ein solcher Mann war Johann Matthias Gesner. -- Zuerst einkurzer
Abriß seines äußern Lebens. Geboren' am 9. April 1691 in dem kleinen
Städtchen Noth an der Rednitz, südlich von Nürnberg, war er noch nicht
14 Jahre, als er seinen Vater, der Prediger war, verlor. In der äußersten
Dürftigkeit bezog er das Gymnasium in Ansbach. Das kleine Ges¬
nerie, wie er damals hieß, mußte als Currenlschüler von Haus zu Haus
Brot und Geld einsammeln, aber der lebendige und heitere, oft muthwillige
Knabe ließ sich dadurch nicht stören. Mit tüchtigen Kenntnissen, nicht allein
im Lateinischen und Griechischen, sondern auch in mehren orientalischen
und neueren Sprachen ausgerüstet bezog er 1710 die Universität Jena. Auch
hier kämpfte er mit drückender Armuth: manchmal, so erzählte er später, hatte
er bei einem Spaziergang am Sonntag einen Groschen in der Tasche, gab
die Hälfte einem Bettler, und kaufte sich für den Rest Aepfel, um davon
2--3 Tage zu leben. Fast die einzige Erwerbsquelle waren deutsche und la¬
teinische Geburlstagsgedichte. 1712 zog er zu Buddeus, dem berühmten Pro¬
fessor der Theologie, um dessen Sohn zu unterrichten, und fand so besseres
Auskommen und geistige Förderung. -- In den ersten Monaten des Jahres
1715 ward er als Conrector nach Weimar berufen. Hier heirathete er. Als


eines naßkalten Nebels zu lasten scheint. Mühsam schleppen sich die Menschen
unter dem Druck der Gewöhnlichkeit durch sie hin, und die Geschichte pflegt
den Gesammteindruck derselben in wenigen Zügen zusammenzufassen, um zu
dankbareren Entwicklungen und Verhältnissen zu gelangen.

Dennoch enthalten grade diese Zeiten für den aufmerksameren. Beobachter
Anlaß genug zu gründlicher Forschung und belohnen sorgfältige Untersuchungen
durch unerwartete Aufschlüsse und Ergebnisse. Denn in solch trüben Zeiten ent¬
stehen und entwickeln sich allmälig die Keime der Gedanken, die dann zum
Leben erwacht das Wesen der großen Zeiten ausmachen. Nicht auf einmal,
wie aus dem Haupte des Zeus Athene, treten große Ideen ins Leben ein:
leise und dunkle Ahnungen, Kampf mit Verspottung und Gewalt, eignes und
fremdes Mißverständniß, vergebliche Versuche unendlichen Mühens gehn in
längerer oder kürzerer Dauer voraus. Und auch solche Zeit ist nicht ganz
arm an Heroen, die, ohne von Zeit und Mitwelt erwärmt und gefördert zu
werden, mit um so größerer Festigkeit des Willens und ruhiger Entsagung
Die Gegenwart in sich überwinden und die Zukunft bereiten.

Man kann in gewisser Weise alle Menschen in solche der Vergangenheit
und Erinnerung, der Befriedigung oder Gegenwart, und endlich der Sehnsucht
und Zukunft eintheilen. Solche Menschen der Sehnsucht treten uns grade in
jenen kahlen und leeren Perioden bei näherem Zusehn herzerfrischend entgegen,
und Dankbarkeit gebietet uns, ihre Gestalten aus dem Dunkel hervorzuziehen
und ihr Andenken zu retten.'

Ein solcher Mann war Johann Matthias Gesner. — Zuerst einkurzer
Abriß seines äußern Lebens. Geboren' am 9. April 1691 in dem kleinen
Städtchen Noth an der Rednitz, südlich von Nürnberg, war er noch nicht
14 Jahre, als er seinen Vater, der Prediger war, verlor. In der äußersten
Dürftigkeit bezog er das Gymnasium in Ansbach. Das kleine Ges¬
nerie, wie er damals hieß, mußte als Currenlschüler von Haus zu Haus
Brot und Geld einsammeln, aber der lebendige und heitere, oft muthwillige
Knabe ließ sich dadurch nicht stören. Mit tüchtigen Kenntnissen, nicht allein
im Lateinischen und Griechischen, sondern auch in mehren orientalischen
und neueren Sprachen ausgerüstet bezog er 1710 die Universität Jena. Auch
hier kämpfte er mit drückender Armuth: manchmal, so erzählte er später, hatte
er bei einem Spaziergang am Sonntag einen Groschen in der Tasche, gab
die Hälfte einem Bettler, und kaufte sich für den Rest Aepfel, um davon
2—3 Tage zu leben. Fast die einzige Erwerbsquelle waren deutsche und la¬
teinische Geburlstagsgedichte. 1712 zog er zu Buddeus, dem berühmten Pro¬
fessor der Theologie, um dessen Sohn zu unterrichten, und fand so besseres
Auskommen und geistige Förderung. — In den ersten Monaten des Jahres
1715 ward er als Conrector nach Weimar berufen. Hier heirathete er. Als


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[0136] eines naßkalten Nebels zu lasten scheint. Mühsam schleppen sich die Menschen unter dem Druck der Gewöhnlichkeit durch sie hin, und die Geschichte pflegt den Gesammteindruck derselben in wenigen Zügen zusammenzufassen, um zu dankbareren Entwicklungen und Verhältnissen zu gelangen. Dennoch enthalten grade diese Zeiten für den aufmerksameren. Beobachter Anlaß genug zu gründlicher Forschung und belohnen sorgfältige Untersuchungen durch unerwartete Aufschlüsse und Ergebnisse. Denn in solch trüben Zeiten ent¬ stehen und entwickeln sich allmälig die Keime der Gedanken, die dann zum Leben erwacht das Wesen der großen Zeiten ausmachen. Nicht auf einmal, wie aus dem Haupte des Zeus Athene, treten große Ideen ins Leben ein: leise und dunkle Ahnungen, Kampf mit Verspottung und Gewalt, eignes und fremdes Mißverständniß, vergebliche Versuche unendlichen Mühens gehn in längerer oder kürzerer Dauer voraus. Und auch solche Zeit ist nicht ganz arm an Heroen, die, ohne von Zeit und Mitwelt erwärmt und gefördert zu werden, mit um so größerer Festigkeit des Willens und ruhiger Entsagung Die Gegenwart in sich überwinden und die Zukunft bereiten. Man kann in gewisser Weise alle Menschen in solche der Vergangenheit und Erinnerung, der Befriedigung oder Gegenwart, und endlich der Sehnsucht und Zukunft eintheilen. Solche Menschen der Sehnsucht treten uns grade in jenen kahlen und leeren Perioden bei näherem Zusehn herzerfrischend entgegen, und Dankbarkeit gebietet uns, ihre Gestalten aus dem Dunkel hervorzuziehen und ihr Andenken zu retten.' Ein solcher Mann war Johann Matthias Gesner. — Zuerst einkurzer Abriß seines äußern Lebens. Geboren' am 9. April 1691 in dem kleinen Städtchen Noth an der Rednitz, südlich von Nürnberg, war er noch nicht 14 Jahre, als er seinen Vater, der Prediger war, verlor. In der äußersten Dürftigkeit bezog er das Gymnasium in Ansbach. Das kleine Ges¬ nerie, wie er damals hieß, mußte als Currenlschüler von Haus zu Haus Brot und Geld einsammeln, aber der lebendige und heitere, oft muthwillige Knabe ließ sich dadurch nicht stören. Mit tüchtigen Kenntnissen, nicht allein im Lateinischen und Griechischen, sondern auch in mehren orientalischen und neueren Sprachen ausgerüstet bezog er 1710 die Universität Jena. Auch hier kämpfte er mit drückender Armuth: manchmal, so erzählte er später, hatte er bei einem Spaziergang am Sonntag einen Groschen in der Tasche, gab die Hälfte einem Bettler, und kaufte sich für den Rest Aepfel, um davon 2—3 Tage zu leben. Fast die einzige Erwerbsquelle waren deutsche und la¬ teinische Geburlstagsgedichte. 1712 zog er zu Buddeus, dem berühmten Pro¬ fessor der Theologie, um dessen Sohn zu unterrichten, und fand so besseres Auskommen und geistige Förderung. — In den ersten Monaten des Jahres 1715 ward er als Conrector nach Weimar berufen. Hier heirathete er. Als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/136>, abgerufen am 23.07.2024.