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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Moment in seiner psychischen Organisation verkümmerte ihm die heitere Ruhe
beim Schaffen; die Greuel in der Familie Schroffenstein, der Engel und das
Gerippe im Käthchen, die somnambulen Scenen im Prinzen von Homburg
siud störende Befangenheiten seines Geistes, welche nicht nur als allgemeine
Schwächen der damaligen Bildung in ihn gekommen sind, sondern welche auch
ihm persönlich zur Last fallen. In den erwähnten und mehren ähnlichen
Momenten mangelt ihm die Kraft, das Stoffliche seines Talentes souverän
zu beherrschen, und deshalb erscheint er uns in Vorstellungen verliebt, welche
an sich poetische, aber in dem Zusammenhange irrationale sind. Sehr viel
auffallender zeigt sich die Schwäche 'des dichterischen Charakters bei Hebbel, so
sehr, daß er bei dem größten Talent doch als Dupe von Anschauungen und
Situationen erscheint, welche ihm selbst übermächtig geworden sind. Das Temperiren
und Verklären des Einzelnen durch die zusammengefaßte Kraft eines harmonisch
gebildeten Geistes fehlt bei ihm oft so sehr, daß er nicht nur Häßliches, sondern viel¬
leicht gradezu Unsinniges schreibt, wo er die gewaltigsten Empfindungen ausdrückt.

Wenn bei jeder Gattung der Poesie das, was hier Charakter des Dich¬
ters genannt wird, einen entscheidenden Einfluß auf die Wirkung ausübt, so
ist das am meisten beim Roman und der Novelle der Fall, welche vorzugs¬
weise die Aufgabe haben, uns die Beziehungen der einzelnen Individuen zu¬
einander in ihrer größten Mannigfaltigkeit, und mit allem Beiwerk und Schmuck
ihres Lebens zu künstlerischer Einheit gebunden zu schildern. Grade bei dieser
Gattung muß der Dichter seinen Lesern in der verschiedensten Weise zu erkennen
geben, wie er selbst das Leben versteht, und wie er die von ihm gefundenen
Charaktere beurtheilt und leitet. Ueberall wird an ihm selbst geprüft, mit welcher
Sicherheit und Freiheit er zu empfinden im Stande ist. Durch die Lectüre ge¬
winnen wir nicht nur Kenntniß von dem Zusammenhang der Erzählung, son¬
dern auch von dem Erzähler selbst; wir hören seine Stimme, wir suchen seine
Urtheile, wir fühlen uns angenehm berührt oder verstimmt, je nachdem uns be¬
friedigt, was er von dem eignen Wesen zeigt; so sehr ist der Charakter des Dich¬
ters beim Romane maßgebend, daß auch mäßige Erfindungskraft im Einzelnen
uns nicht stört, wenn der Erzähler durch die innere Haltung seines Gemüthes
zu fesseln weiß. Das bekannteste Beispiel ist Don Ouirote, in dem die
Erfindung des Details monoton, ja dürftig ist , und der ganze Reiz in
der souveränen Freiheit liegt, in welcher der Dichter mit seinen Helden
scherzt. Beispiele vom Gegentheile sind die französischen Romane von Sue,
Dumas u. s. w., in denen die Erfindung gewaltiger und spannender Momente
ungewöhnlich groß ist, statt der sicheren und würdigen Freiheit des Erzählers
aber eine wüste, freche und gemeine Unfreiheit empört.

Wenn nun in Otto Ludwigs mächtiger Kraft etwas Bedenkliches ist,
so liegt dies in dem Maugel an Freiheit gegenüber seinen Helden. Zu leiden-


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Moment in seiner psychischen Organisation verkümmerte ihm die heitere Ruhe
beim Schaffen; die Greuel in der Familie Schroffenstein, der Engel und das
Gerippe im Käthchen, die somnambulen Scenen im Prinzen von Homburg
siud störende Befangenheiten seines Geistes, welche nicht nur als allgemeine
Schwächen der damaligen Bildung in ihn gekommen sind, sondern welche auch
ihm persönlich zur Last fallen. In den erwähnten und mehren ähnlichen
Momenten mangelt ihm die Kraft, das Stoffliche seines Talentes souverän
zu beherrschen, und deshalb erscheint er uns in Vorstellungen verliebt, welche
an sich poetische, aber in dem Zusammenhange irrationale sind. Sehr viel
auffallender zeigt sich die Schwäche 'des dichterischen Charakters bei Hebbel, so
sehr, daß er bei dem größten Talent doch als Dupe von Anschauungen und
Situationen erscheint, welche ihm selbst übermächtig geworden sind. Das Temperiren
und Verklären des Einzelnen durch die zusammengefaßte Kraft eines harmonisch
gebildeten Geistes fehlt bei ihm oft so sehr, daß er nicht nur Häßliches, sondern viel¬
leicht gradezu Unsinniges schreibt, wo er die gewaltigsten Empfindungen ausdrückt.

Wenn bei jeder Gattung der Poesie das, was hier Charakter des Dich¬
ters genannt wird, einen entscheidenden Einfluß auf die Wirkung ausübt, so
ist das am meisten beim Roman und der Novelle der Fall, welche vorzugs¬
weise die Aufgabe haben, uns die Beziehungen der einzelnen Individuen zu¬
einander in ihrer größten Mannigfaltigkeit, und mit allem Beiwerk und Schmuck
ihres Lebens zu künstlerischer Einheit gebunden zu schildern. Grade bei dieser
Gattung muß der Dichter seinen Lesern in der verschiedensten Weise zu erkennen
geben, wie er selbst das Leben versteht, und wie er die von ihm gefundenen
Charaktere beurtheilt und leitet. Ueberall wird an ihm selbst geprüft, mit welcher
Sicherheit und Freiheit er zu empfinden im Stande ist. Durch die Lectüre ge¬
winnen wir nicht nur Kenntniß von dem Zusammenhang der Erzählung, son¬
dern auch von dem Erzähler selbst; wir hören seine Stimme, wir suchen seine
Urtheile, wir fühlen uns angenehm berührt oder verstimmt, je nachdem uns be¬
friedigt, was er von dem eignen Wesen zeigt; so sehr ist der Charakter des Dich¬
ters beim Romane maßgebend, daß auch mäßige Erfindungskraft im Einzelnen
uns nicht stört, wenn der Erzähler durch die innere Haltung seines Gemüthes
zu fesseln weiß. Das bekannteste Beispiel ist Don Ouirote, in dem die
Erfindung des Details monoton, ja dürftig ist , und der ganze Reiz in
der souveränen Freiheit liegt, in welcher der Dichter mit seinen Helden
scherzt. Beispiele vom Gegentheile sind die französischen Romane von Sue,
Dumas u. s. w., in denen die Erfindung gewaltiger und spannender Momente
ungewöhnlich groß ist, statt der sicheren und würdigen Freiheit des Erzählers
aber eine wüste, freche und gemeine Unfreiheit empört.

Wenn nun in Otto Ludwigs mächtiger Kraft etwas Bedenkliches ist,
so liegt dies in dem Maugel an Freiheit gegenüber seinen Helden. Zu leiden-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/131>, abgerufen am 23.07.2024.