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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Kunst, der Sitte, sogar des Rechts. Unserm Blick erscheinen die Seelen der
Völker in diesen großen Kreisen idealer Thätigkeit so zunächst als organische
Gebilde, den Gebilden der gegenständlichen Natur vergleichbar. Aber die Lebens-
kraft dieser großen irdischen Gestaltungen strömt vorwärts durch eine unendliche
Menge von einzelnen Menschen, von denen jeder ein Abbild des Ganzen ist,
und jeder sein eignes Leben dem Ganzen gegenüber geltend macht. Aus diesem
unablässigen Entwickeln der Individuen aus der Volkskraft und der Einwirkung
der Einzelnen auf die Volksseele setzt sich die innere Geschichte eines Volkes,
der Proceß seines Lebens, zusammen. Und wieder berühren die Völkerseclen
sich untereinander, eine wirkt auf die andre ein, sie fördern und vernichten
einander, fließen zu neuen Gebilden zusammen, sie quellen empor und zerrinnen.
In allen aber, wie verschieden ihre Persönlichkeit und ihr Erdenlauf sein möge,
ist ein Letztes, ein Gemeinsames zu erkennen, dieselben höchsten Gesetze
des Lebens gelten sür alle; und dieses Gemeinsame aus der Verschiedenheit
zu erkennen, und dadurch zuletzt das ganze Menschengeschlecht zu verstehn, das
bedeutet der deutschen historischen Wissenschaft, Gott auf ihren Wegen suchen.

So ist eS möglich geworden, daß kritische Untersuchungen über die Existenz
des blinden Mannes von Chios und über die Verse der Neuseeländer eine
Wichtigkeit für unser Leben gewinnen, welche man einst eine das Menschen¬
geschlecht bestimmende nennen wird. Denn noch sind wir im Anfange; noch
ist, was diese Wissenschaft bis jetzt gewonnen hat, nur das Eigenthum von
wenig Tausenden, welche durch eine lange und schwere Schule durchgehen
müssen, um sie zu verstehen; noch gedeiht diese Richtung deS menschlichen
Schaffens in einer stolzen und strengen Abgeschlossenheit von dem Geräusch der
Welt, und von vielen althergebrachten Vorstellungen unseres Volks; und noch
ist diese Abgeschlossenheit der neuen Lehre selbst heilsam. Aber wen" wir auf
großen Gebieten unseres Lebens mit tiefem Schmerz beklagen, daß ein Gegen¬
satz vorhanden sei zwischen dem Erkennen der Einzelnen und den Ansichten
des Volkes, ein Gegensatz, so. groß und scharf abgesteckt, daß unsere Kraft
verzweifelt, ihn zu überwinden, so wollen wir mit Hoffnung und Vertrauen
daran denken, daß wir schon jetzt wenigstens ahnen können, durch welche
Mächte er in einer Zukunft überbaut werden wird. Denn aus den Studien
unserer großen Gelehrten über das stille Wirken der Gotteskraft in den Völ¬
kern wird dereinst eine neue Lehre ausgehen, welche hoch und rein erfassen
wird die Stellung des lebenden Menschen zu seinen Mitmenschen, zu seinem
Volke, seinem Staat, seinem Gott. -- Und wie dann Wilhelm von Humboldt
als einer der Ersten gelten wird, welche in den historischen Wissenschaften die
neue Zeit vorbereitet haben, ebenso sein Bruder Alexander in der Natur¬
wissenschaft.




Kunst, der Sitte, sogar des Rechts. Unserm Blick erscheinen die Seelen der
Völker in diesen großen Kreisen idealer Thätigkeit so zunächst als organische
Gebilde, den Gebilden der gegenständlichen Natur vergleichbar. Aber die Lebens-
kraft dieser großen irdischen Gestaltungen strömt vorwärts durch eine unendliche
Menge von einzelnen Menschen, von denen jeder ein Abbild des Ganzen ist,
und jeder sein eignes Leben dem Ganzen gegenüber geltend macht. Aus diesem
unablässigen Entwickeln der Individuen aus der Volkskraft und der Einwirkung
der Einzelnen auf die Volksseele setzt sich die innere Geschichte eines Volkes,
der Proceß seines Lebens, zusammen. Und wieder berühren die Völkerseclen
sich untereinander, eine wirkt auf die andre ein, sie fördern und vernichten
einander, fließen zu neuen Gebilden zusammen, sie quellen empor und zerrinnen.
In allen aber, wie verschieden ihre Persönlichkeit und ihr Erdenlauf sein möge,
ist ein Letztes, ein Gemeinsames zu erkennen, dieselben höchsten Gesetze
des Lebens gelten sür alle; und dieses Gemeinsame aus der Verschiedenheit
zu erkennen, und dadurch zuletzt das ganze Menschengeschlecht zu verstehn, das
bedeutet der deutschen historischen Wissenschaft, Gott auf ihren Wegen suchen.

So ist eS möglich geworden, daß kritische Untersuchungen über die Existenz
des blinden Mannes von Chios und über die Verse der Neuseeländer eine
Wichtigkeit für unser Leben gewinnen, welche man einst eine das Menschen¬
geschlecht bestimmende nennen wird. Denn noch sind wir im Anfange; noch
ist, was diese Wissenschaft bis jetzt gewonnen hat, nur das Eigenthum von
wenig Tausenden, welche durch eine lange und schwere Schule durchgehen
müssen, um sie zu verstehen; noch gedeiht diese Richtung deS menschlichen
Schaffens in einer stolzen und strengen Abgeschlossenheit von dem Geräusch der
Welt, und von vielen althergebrachten Vorstellungen unseres Volks; und noch
ist diese Abgeschlossenheit der neuen Lehre selbst heilsam. Aber wen» wir auf
großen Gebieten unseres Lebens mit tiefem Schmerz beklagen, daß ein Gegen¬
satz vorhanden sei zwischen dem Erkennen der Einzelnen und den Ansichten
des Volkes, ein Gegensatz, so. groß und scharf abgesteckt, daß unsere Kraft
verzweifelt, ihn zu überwinden, so wollen wir mit Hoffnung und Vertrauen
daran denken, daß wir schon jetzt wenigstens ahnen können, durch welche
Mächte er in einer Zukunft überbaut werden wird. Denn aus den Studien
unserer großen Gelehrten über das stille Wirken der Gotteskraft in den Völ¬
kern wird dereinst eine neue Lehre ausgehen, welche hoch und rein erfassen
wird die Stellung des lebenden Menschen zu seinen Mitmenschen, zu seinem
Volke, seinem Staat, seinem Gott. — Und wie dann Wilhelm von Humboldt
als einer der Ersten gelten wird, welche in den historischen Wissenschaften die
neue Zeit vorbereitet haben, ebenso sein Bruder Alexander in der Natur¬
wissenschaft.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/102>, abgerufen am 23.07.2024.