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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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von' Wolf über die Entstehung der homerischen Gesänge, von Niebuhr über die
Entwicklung des römischen Staats, von Lachmann über den Ursprung des
Nibelungenliedes, von Strauß über die ältesten Urkunden deS Christenthums,
Während die Wissenschaft in ihrem ewigen und endlosen Ringen nach Erkenntniß
des Unendlichen, d. h. Gottes, durch Jahrtausende eine unübersteigliche Schranke
hatte in dem Zwange der Individualität, und in der Beschränktheit des einzelnen
Lebenden, welcher das Lebendige sich nu/vorstellen und erfassen konnte als dem
eignen Wesen analoge, geschlossene Persönlichkeiten, welcher den Staat faßte als
ein Aggregat von Individuen für bestimmte Zwecke, (wie noch der Jüngling
Humboldt that,) und welcher sich in frommer Gläubigkeit seinen Gott gegenüber¬
stellte gleich einer geschlossenen Persönlichkeit; hat endlich die deutsche historische
Wissenschaft seit Wolf und Humboldt einen neuen Kreis von höhern Indivi¬
dualitäten, als die des einzelnen Menschen, zu unserer Kenntniß gebracht: die
Völkerseelen. Wie die Engel dom alten Kirchenglauben eine Zwischenstufe der
Individualitäten zwischen dem Menschen und Gott darstellen, ähnlich schweben
in der Wissenschaft die Seelen der Völker als eine höhere Ordnung geistiger
Gebilde. Immer noch sind sie Individualitäten, in ihrer irdischen Erscheinung
begrenzt durch Raum und Zeit, aber schou unter andern Lebensbedingungen entste¬
hend, schaffend und vergehend, als die einzelnen Menschen, welche unablöslich zu
ihnen gehören als zahllose einzelne Organe ihres einheitlichen, mächtigen Wesens.
Die geheimnißvollen Gesetze dieses höhern Lebens im Einzelnen zu erforschen,
Gestalt und Wesen der verschiedenen Völkerseelen zu erkennen und daraus
den göttlichen Geist im Menschengeschlecht, das ist das nie ganz zu errei¬
chende Ziel aller großen historischen, linguistischen und kritischen Arbeiten
der deutschen Wissenschaft; und gleich hier soll gesagt sein, daß niemand
tiefer in manche Geheimnisse dieses stillen geistigen Werdens der übermensch¬
lichen Gewalten eingedrungen ist, als Wilhelm von Humboldt. Auch
durch ihn ist nachgewiesen worden, daß das Leben der Völker von seinem
Aufgang bis zum Zerfließen nach andern Gesetzen verläuft, als das be¬
wußte Leben der Individuen. An die Stelle des Selbstbewußtseins und
freier Gestaltung des eignen Daseins nach vernünftigem Erkennen und
Zu verständigen Zwecken tritt bei diesen höhern Gebilden der Erde wieder
ein Walten bestimmender Kräfte ein, welche sich am nächsten vergleichen
mit dem Erzeugen der Pflanze in bestimmter Form aus dem Zwange, den die
Natur in das Samenkorn gelegt hat. Aus solchem Zwange der Urkraft ent¬
steht die Sprache als die erste Lebensäußerung der Völkerseele, welche durch ihre
Sprache die äußere Welt, welche in sie hereinbringt, sich von neuem schafft, und
diesen Proceß des Schaffens in^allen Individuen, welche zu ihr gehören, immer
nieder aufs neue' durchmacht, so lange sie lebt. Aus demselben Drange deS
Lebens entsteht die älteste Poesie und ihre Form, der Vers, die Anfänge aller


von' Wolf über die Entstehung der homerischen Gesänge, von Niebuhr über die
Entwicklung des römischen Staats, von Lachmann über den Ursprung des
Nibelungenliedes, von Strauß über die ältesten Urkunden deS Christenthums,
Während die Wissenschaft in ihrem ewigen und endlosen Ringen nach Erkenntniß
des Unendlichen, d. h. Gottes, durch Jahrtausende eine unübersteigliche Schranke
hatte in dem Zwange der Individualität, und in der Beschränktheit des einzelnen
Lebenden, welcher das Lebendige sich nu/vorstellen und erfassen konnte als dem
eignen Wesen analoge, geschlossene Persönlichkeiten, welcher den Staat faßte als
ein Aggregat von Individuen für bestimmte Zwecke, (wie noch der Jüngling
Humboldt that,) und welcher sich in frommer Gläubigkeit seinen Gott gegenüber¬
stellte gleich einer geschlossenen Persönlichkeit; hat endlich die deutsche historische
Wissenschaft seit Wolf und Humboldt einen neuen Kreis von höhern Indivi¬
dualitäten, als die des einzelnen Menschen, zu unserer Kenntniß gebracht: die
Völkerseelen. Wie die Engel dom alten Kirchenglauben eine Zwischenstufe der
Individualitäten zwischen dem Menschen und Gott darstellen, ähnlich schweben
in der Wissenschaft die Seelen der Völker als eine höhere Ordnung geistiger
Gebilde. Immer noch sind sie Individualitäten, in ihrer irdischen Erscheinung
begrenzt durch Raum und Zeit, aber schou unter andern Lebensbedingungen entste¬
hend, schaffend und vergehend, als die einzelnen Menschen, welche unablöslich zu
ihnen gehören als zahllose einzelne Organe ihres einheitlichen, mächtigen Wesens.
Die geheimnißvollen Gesetze dieses höhern Lebens im Einzelnen zu erforschen,
Gestalt und Wesen der verschiedenen Völkerseelen zu erkennen und daraus
den göttlichen Geist im Menschengeschlecht, das ist das nie ganz zu errei¬
chende Ziel aller großen historischen, linguistischen und kritischen Arbeiten
der deutschen Wissenschaft; und gleich hier soll gesagt sein, daß niemand
tiefer in manche Geheimnisse dieses stillen geistigen Werdens der übermensch¬
lichen Gewalten eingedrungen ist, als Wilhelm von Humboldt. Auch
durch ihn ist nachgewiesen worden, daß das Leben der Völker von seinem
Aufgang bis zum Zerfließen nach andern Gesetzen verläuft, als das be¬
wußte Leben der Individuen. An die Stelle des Selbstbewußtseins und
freier Gestaltung des eignen Daseins nach vernünftigem Erkennen und
Zu verständigen Zwecken tritt bei diesen höhern Gebilden der Erde wieder
ein Walten bestimmender Kräfte ein, welche sich am nächsten vergleichen
mit dem Erzeugen der Pflanze in bestimmter Form aus dem Zwange, den die
Natur in das Samenkorn gelegt hat. Aus solchem Zwange der Urkraft ent¬
steht die Sprache als die erste Lebensäußerung der Völkerseele, welche durch ihre
Sprache die äußere Welt, welche in sie hereinbringt, sich von neuem schafft, und
diesen Proceß des Schaffens in^allen Individuen, welche zu ihr gehören, immer
nieder aufs neue' durchmacht, so lange sie lebt. Aus demselben Drange deS
Lebens entsteht die älteste Poesie und ihre Form, der Vers, die Anfänge aller


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[0101] von' Wolf über die Entstehung der homerischen Gesänge, von Niebuhr über die Entwicklung des römischen Staats, von Lachmann über den Ursprung des Nibelungenliedes, von Strauß über die ältesten Urkunden deS Christenthums, Während die Wissenschaft in ihrem ewigen und endlosen Ringen nach Erkenntniß des Unendlichen, d. h. Gottes, durch Jahrtausende eine unübersteigliche Schranke hatte in dem Zwange der Individualität, und in der Beschränktheit des einzelnen Lebenden, welcher das Lebendige sich nu/vorstellen und erfassen konnte als dem eignen Wesen analoge, geschlossene Persönlichkeiten, welcher den Staat faßte als ein Aggregat von Individuen für bestimmte Zwecke, (wie noch der Jüngling Humboldt that,) und welcher sich in frommer Gläubigkeit seinen Gott gegenüber¬ stellte gleich einer geschlossenen Persönlichkeit; hat endlich die deutsche historische Wissenschaft seit Wolf und Humboldt einen neuen Kreis von höhern Indivi¬ dualitäten, als die des einzelnen Menschen, zu unserer Kenntniß gebracht: die Völkerseelen. Wie die Engel dom alten Kirchenglauben eine Zwischenstufe der Individualitäten zwischen dem Menschen und Gott darstellen, ähnlich schweben in der Wissenschaft die Seelen der Völker als eine höhere Ordnung geistiger Gebilde. Immer noch sind sie Individualitäten, in ihrer irdischen Erscheinung begrenzt durch Raum und Zeit, aber schou unter andern Lebensbedingungen entste¬ hend, schaffend und vergehend, als die einzelnen Menschen, welche unablöslich zu ihnen gehören als zahllose einzelne Organe ihres einheitlichen, mächtigen Wesens. Die geheimnißvollen Gesetze dieses höhern Lebens im Einzelnen zu erforschen, Gestalt und Wesen der verschiedenen Völkerseelen zu erkennen und daraus den göttlichen Geist im Menschengeschlecht, das ist das nie ganz zu errei¬ chende Ziel aller großen historischen, linguistischen und kritischen Arbeiten der deutschen Wissenschaft; und gleich hier soll gesagt sein, daß niemand tiefer in manche Geheimnisse dieses stillen geistigen Werdens der übermensch¬ lichen Gewalten eingedrungen ist, als Wilhelm von Humboldt. Auch durch ihn ist nachgewiesen worden, daß das Leben der Völker von seinem Aufgang bis zum Zerfließen nach andern Gesetzen verläuft, als das be¬ wußte Leben der Individuen. An die Stelle des Selbstbewußtseins und freier Gestaltung des eignen Daseins nach vernünftigem Erkennen und Zu verständigen Zwecken tritt bei diesen höhern Gebilden der Erde wieder ein Walten bestimmender Kräfte ein, welche sich am nächsten vergleichen mit dem Erzeugen der Pflanze in bestimmter Form aus dem Zwange, den die Natur in das Samenkorn gelegt hat. Aus solchem Zwange der Urkraft ent¬ steht die Sprache als die erste Lebensäußerung der Völkerseele, welche durch ihre Sprache die äußere Welt, welche in sie hereinbringt, sich von neuem schafft, und diesen Proceß des Schaffens in^allen Individuen, welche zu ihr gehören, immer nieder aufs neue' durchmacht, so lange sie lebt. Aus demselben Drange deS Lebens entsteht die älteste Poesie und ihre Form, der Vers, die Anfänge aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/101>, abgerufen am 23.07.2024.