Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

welchen die Selbstachtung, der nationale Stolz, überhaupt die Nationalität
hervorgehen. So groß und stark wir zusammengenommen sind, so ist es in
unsre Gewohnheit übergegangen zu denken, daß Frankreich, England, Rußland
viel mächtiger sind als wir, uno daß wir in der politischen Wagschale von
Europa wenig geltend Wir haben uns leider, ohne Scham darüber zu em¬
pfinden, daran gewöhnt, unsre großen Bestimmungen vom Ausland zu erhalten,
da wir seil Jahrhunderten keine gesammtdeutsche Politik gehabt haben. So
haben wir uns immer an das viel mächtigere Ausland gelehnt, wie nach den
Freiheitskriegen an Rußland, und dabei haben wir doch Frankreich sowol wie
Rußland gefürchtet. Aus diesen verschiedenartigen Strömungen kommen dann
Dinge zum Vorschein, die in Frankreich, England, Rußland unmöglich wären.
Ohne Erröthen kann es unter uns wenigstens bei einer Partei vorkommen,'
daß diese es öffentlich bis zur Selbstentäußerung als Nation treibt. Den
eignen Souverän und das Vaterland verleugnend ist es nicht selten öffentlich
ohne Rüge geschehen, daß eine Partei einen auswärtigen Souverän als
den eigentlichen Beschützer des Vaterlandes gepriesen und anerkannt hat."

Diese ernste Betrachtung des wackern Offiziers,, dem wir das vorliegende
Buch verdanken, wird uns durch die neuesten Ereignisse um so näher gerückt,
da eine Gefahr, an die während des ivjährigen Friedens niemand dachte, sich
vor aller Augen enthüllt hat. Man war durch die lange Waffenruhe ver¬
weichlicht, und schmeichelte sich wol mit der Hoffnung, die ungeheure Entwick¬
lung der Industrie und des Creditsystems mache einen ernsthaften europäischen
Krieg unmöglich. Wie schwankend der Grund war, auf den diese Erwartungen
sich stützten, hat sich nun gezeigt. Wir sahen einen furchtbaren Krieg ent¬
brennen, wir sahen von drei Nationen die unerhörtesten, riesenhaftesten An¬
strengungen gemacht, und zwar um eines Gegenstandes willen, den man nicht
einmal genau bezeichnen konnte. Die Menschen, die in diesem Kriege gefallen
sind, zählen nach Hunderttausenden, die pecuniären Opfer nach vielen Milliar¬
den. Frankreich, Rußland und England haben ihre Kräfte erprobt, und was
namentlich die beiden erstern geleistet, muß uns ein mit Entsetzen gemischtes
Gefühl der Bewunderung einflößen. Die französische Armee hat ihren alten
Ruhm aufs glänzendste bewährt, und die russische, obgleich sie besiegt wurde,
nicht minder. Beide haben Blut gekostet, beide haben das Gefühl, ihre Kräfte
an einen unangemessenen Gegenstand verschwendet zu haben; beide hegen den
lebhaftesten Wunsch, sich durch einen realen Gewinn zu entschädigen. Zwar
steht einem Bündniß zwischen Frankreich und Nußland alles entgegen, was in
der Bildung, in der Geschichte und in den Traditionen der beiden Völker liegt;
aber beide. Staaten sind unumschränkte Monarchien, und es liegt lediglich in
dem Willen der Herrscher, wie weit sie den Neigungen ihres Volks Rechnung
tragen. So lange die erwünschte Beute, das deutsche Territorium, machtlos


welchen die Selbstachtung, der nationale Stolz, überhaupt die Nationalität
hervorgehen. So groß und stark wir zusammengenommen sind, so ist es in
unsre Gewohnheit übergegangen zu denken, daß Frankreich, England, Rußland
viel mächtiger sind als wir, uno daß wir in der politischen Wagschale von
Europa wenig geltend Wir haben uns leider, ohne Scham darüber zu em¬
pfinden, daran gewöhnt, unsre großen Bestimmungen vom Ausland zu erhalten,
da wir seil Jahrhunderten keine gesammtdeutsche Politik gehabt haben. So
haben wir uns immer an das viel mächtigere Ausland gelehnt, wie nach den
Freiheitskriegen an Rußland, und dabei haben wir doch Frankreich sowol wie
Rußland gefürchtet. Aus diesen verschiedenartigen Strömungen kommen dann
Dinge zum Vorschein, die in Frankreich, England, Rußland unmöglich wären.
Ohne Erröthen kann es unter uns wenigstens bei einer Partei vorkommen,'
daß diese es öffentlich bis zur Selbstentäußerung als Nation treibt. Den
eignen Souverän und das Vaterland verleugnend ist es nicht selten öffentlich
ohne Rüge geschehen, daß eine Partei einen auswärtigen Souverän als
den eigentlichen Beschützer des Vaterlandes gepriesen und anerkannt hat."

Diese ernste Betrachtung des wackern Offiziers,, dem wir das vorliegende
Buch verdanken, wird uns durch die neuesten Ereignisse um so näher gerückt,
da eine Gefahr, an die während des ivjährigen Friedens niemand dachte, sich
vor aller Augen enthüllt hat. Man war durch die lange Waffenruhe ver¬
weichlicht, und schmeichelte sich wol mit der Hoffnung, die ungeheure Entwick¬
lung der Industrie und des Creditsystems mache einen ernsthaften europäischen
Krieg unmöglich. Wie schwankend der Grund war, auf den diese Erwartungen
sich stützten, hat sich nun gezeigt. Wir sahen einen furchtbaren Krieg ent¬
brennen, wir sahen von drei Nationen die unerhörtesten, riesenhaftesten An¬
strengungen gemacht, und zwar um eines Gegenstandes willen, den man nicht
einmal genau bezeichnen konnte. Die Menschen, die in diesem Kriege gefallen
sind, zählen nach Hunderttausenden, die pecuniären Opfer nach vielen Milliar¬
den. Frankreich, Rußland und England haben ihre Kräfte erprobt, und was
namentlich die beiden erstern geleistet, muß uns ein mit Entsetzen gemischtes
Gefühl der Bewunderung einflößen. Die französische Armee hat ihren alten
Ruhm aufs glänzendste bewährt, und die russische, obgleich sie besiegt wurde,
nicht minder. Beide haben Blut gekostet, beide haben das Gefühl, ihre Kräfte
an einen unangemessenen Gegenstand verschwendet zu haben; beide hegen den
lebhaftesten Wunsch, sich durch einen realen Gewinn zu entschädigen. Zwar
steht einem Bündniß zwischen Frankreich und Nußland alles entgegen, was in
der Bildung, in der Geschichte und in den Traditionen der beiden Völker liegt;
aber beide. Staaten sind unumschränkte Monarchien, und es liegt lediglich in
dem Willen der Herrscher, wie weit sie den Neigungen ihres Volks Rechnung
tragen. So lange die erwünschte Beute, das deutsche Territorium, machtlos


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101621"/>
          <p xml:id="ID_217" prev="#ID_216"> welchen die Selbstachtung, der nationale Stolz, überhaupt die Nationalität<lb/>
hervorgehen. So groß und stark wir zusammengenommen sind, so ist es in<lb/>
unsre Gewohnheit übergegangen zu denken, daß Frankreich, England, Rußland<lb/>
viel mächtiger sind als wir, uno daß wir in der politischen Wagschale von<lb/>
Europa wenig geltend Wir haben uns leider, ohne Scham darüber zu em¬<lb/>
pfinden, daran gewöhnt, unsre großen Bestimmungen vom Ausland zu erhalten,<lb/>
da wir seil Jahrhunderten keine gesammtdeutsche Politik gehabt haben. So<lb/>
haben wir uns immer an das viel mächtigere Ausland gelehnt, wie nach den<lb/>
Freiheitskriegen an Rußland, und dabei haben wir doch Frankreich sowol wie<lb/>
Rußland gefürchtet. Aus diesen verschiedenartigen Strömungen kommen dann<lb/>
Dinge zum Vorschein, die in Frankreich, England, Rußland unmöglich wären.<lb/>
Ohne Erröthen kann es unter uns wenigstens bei einer Partei vorkommen,'<lb/>
daß diese es öffentlich bis zur Selbstentäußerung als Nation treibt. Den<lb/>
eignen Souverän und das Vaterland verleugnend ist es nicht selten öffentlich<lb/>
ohne Rüge geschehen, daß eine Partei einen auswärtigen Souverän als<lb/>
den eigentlichen Beschützer des Vaterlandes gepriesen und anerkannt hat."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218" next="#ID_219"> Diese ernste Betrachtung des wackern Offiziers,, dem wir das vorliegende<lb/>
Buch verdanken, wird uns durch die neuesten Ereignisse um so näher gerückt,<lb/>
da eine Gefahr, an die während des ivjährigen Friedens niemand dachte, sich<lb/>
vor aller Augen enthüllt hat. Man war durch die lange Waffenruhe ver¬<lb/>
weichlicht, und schmeichelte sich wol mit der Hoffnung, die ungeheure Entwick¬<lb/>
lung der Industrie und des Creditsystems mache einen ernsthaften europäischen<lb/>
Krieg unmöglich. Wie schwankend der Grund war, auf den diese Erwartungen<lb/>
sich stützten, hat sich nun gezeigt. Wir sahen einen furchtbaren Krieg ent¬<lb/>
brennen, wir sahen von drei Nationen die unerhörtesten, riesenhaftesten An¬<lb/>
strengungen gemacht, und zwar um eines Gegenstandes willen, den man nicht<lb/>
einmal genau bezeichnen konnte. Die Menschen, die in diesem Kriege gefallen<lb/>
sind, zählen nach Hunderttausenden, die pecuniären Opfer nach vielen Milliar¬<lb/>
den. Frankreich, Rußland und England haben ihre Kräfte erprobt, und was<lb/>
namentlich die beiden erstern geleistet, muß uns ein mit Entsetzen gemischtes<lb/>
Gefühl der Bewunderung einflößen. Die französische Armee hat ihren alten<lb/>
Ruhm aufs glänzendste bewährt, und die russische, obgleich sie besiegt wurde,<lb/>
nicht minder. Beide haben Blut gekostet, beide haben das Gefühl, ihre Kräfte<lb/>
an einen unangemessenen Gegenstand verschwendet zu haben; beide hegen den<lb/>
lebhaftesten Wunsch, sich durch einen realen Gewinn zu entschädigen. Zwar<lb/>
steht einem Bündniß zwischen Frankreich und Nußland alles entgegen, was in<lb/>
der Bildung, in der Geschichte und in den Traditionen der beiden Völker liegt;<lb/>
aber beide. Staaten sind unumschränkte Monarchien, und es liegt lediglich in<lb/>
dem Willen der Herrscher, wie weit sie den Neigungen ihres Volks Rechnung<lb/>
tragen.  So lange die erwünschte Beute, das deutsche Territorium, machtlos</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0094] welchen die Selbstachtung, der nationale Stolz, überhaupt die Nationalität hervorgehen. So groß und stark wir zusammengenommen sind, so ist es in unsre Gewohnheit übergegangen zu denken, daß Frankreich, England, Rußland viel mächtiger sind als wir, uno daß wir in der politischen Wagschale von Europa wenig geltend Wir haben uns leider, ohne Scham darüber zu em¬ pfinden, daran gewöhnt, unsre großen Bestimmungen vom Ausland zu erhalten, da wir seil Jahrhunderten keine gesammtdeutsche Politik gehabt haben. So haben wir uns immer an das viel mächtigere Ausland gelehnt, wie nach den Freiheitskriegen an Rußland, und dabei haben wir doch Frankreich sowol wie Rußland gefürchtet. Aus diesen verschiedenartigen Strömungen kommen dann Dinge zum Vorschein, die in Frankreich, England, Rußland unmöglich wären. Ohne Erröthen kann es unter uns wenigstens bei einer Partei vorkommen,' daß diese es öffentlich bis zur Selbstentäußerung als Nation treibt. Den eignen Souverän und das Vaterland verleugnend ist es nicht selten öffentlich ohne Rüge geschehen, daß eine Partei einen auswärtigen Souverän als den eigentlichen Beschützer des Vaterlandes gepriesen und anerkannt hat." Diese ernste Betrachtung des wackern Offiziers,, dem wir das vorliegende Buch verdanken, wird uns durch die neuesten Ereignisse um so näher gerückt, da eine Gefahr, an die während des ivjährigen Friedens niemand dachte, sich vor aller Augen enthüllt hat. Man war durch die lange Waffenruhe ver¬ weichlicht, und schmeichelte sich wol mit der Hoffnung, die ungeheure Entwick¬ lung der Industrie und des Creditsystems mache einen ernsthaften europäischen Krieg unmöglich. Wie schwankend der Grund war, auf den diese Erwartungen sich stützten, hat sich nun gezeigt. Wir sahen einen furchtbaren Krieg ent¬ brennen, wir sahen von drei Nationen die unerhörtesten, riesenhaftesten An¬ strengungen gemacht, und zwar um eines Gegenstandes willen, den man nicht einmal genau bezeichnen konnte. Die Menschen, die in diesem Kriege gefallen sind, zählen nach Hunderttausenden, die pecuniären Opfer nach vielen Milliar¬ den. Frankreich, Rußland und England haben ihre Kräfte erprobt, und was namentlich die beiden erstern geleistet, muß uns ein mit Entsetzen gemischtes Gefühl der Bewunderung einflößen. Die französische Armee hat ihren alten Ruhm aufs glänzendste bewährt, und die russische, obgleich sie besiegt wurde, nicht minder. Beide haben Blut gekostet, beide haben das Gefühl, ihre Kräfte an einen unangemessenen Gegenstand verschwendet zu haben; beide hegen den lebhaftesten Wunsch, sich durch einen realen Gewinn zu entschädigen. Zwar steht einem Bündniß zwischen Frankreich und Nußland alles entgegen, was in der Bildung, in der Geschichte und in den Traditionen der beiden Völker liegt; aber beide. Staaten sind unumschränkte Monarchien, und es liegt lediglich in dem Willen der Herrscher, wie weit sie den Neigungen ihres Volks Rechnung tragen. So lange die erwünschte Beute, das deutsche Territorium, machtlos

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/94
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/94>, abgerufen am 05.07.2024.