Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihrer Gassenhauermusik in höchst ergötzlich kleinstädtischer Beschränktheit fort¬
lebt. Ein herrliches Ländchen, um den seit zwanzig Jahren abgestorbenen Ge¬
schmack im äußern Leben, in Wissenschaft, Dichtung und Kunst aufs gründ¬
lichste zu repetiren. Wir haben während unsres dortigen Aufenthaltes alle die
schönen alten Lieder gelernt, die jetzt längst aus dem poetischen und musika¬
lischen Gedächtnisse unsres Volkes entschwanden, an dieser Stelle jedoch sich
des Reizes der Neuheit noch nicht entäußert, haben. -- Bedenken wir die
Fortschritte, die eine Bevölkerung unter einer klugen Regierung in zwanzig
Jahren machen kann, so werden wir einen Begriff von dem Zustande der nie¬
dern Classe, wol aber auch den Trost gewinnen, daß nach andern zwanzig
Jahren auch unsre jetzigen musikalischen Bravourstücke, und andrerseits unsre
jetzigen Bildungsmittel in diese geistige Einöde gedrungen sein möchten.

Mindestens der niedern Volksclasse wünschten wir diesen Fortschritt in
kürzerer Zeit. Wir hätten aber auch für sie noch vieles andre Wünschens-
werthe, was nicht durch die Wohlthat der staatlichen Erziehung, sondern nur
durch materielles Wohlthun zu erringen wäre: wir wünschten vielen Hun¬
derten Erlösung aus einem grenzenlosen Elend. -- Es gibt in Masuren
fruchtbare, überaus fruchtbare Strecken, und diese sind mit reinlichen, schmucken,
blühenden Dörfern besät. Da erheben sich Hunderte von kleinen, aus Holz
geschnitzten Thürmchen, die Zeugen eines wohlhäbigen, sich über die menschliche
Bedürftigkeit erhebenden Zustandes; da umschatten Linden und Eichen die
festen, vom verderbenden, fauligen Mose gereinigten Strohdächer, und Hunderte
von Störchen bauen dort ihre glückweissagenden, friedlichen Nester. Es ist ein
erfreulicher Anblick. Ein andrer Theil der Ländereien ist durch ausgedehnte
Domänen und durch große, reiche Güter fortgenommen; ein drittes Quan¬
tum, aus sandigem,'hakenlosen, dürrem Boden bestehend, wo außer kärglichem
Buchweizen kein andres Kräutlein Wurzel und Nahrung gewinnen kann, ist
einem dritten Theil der Bevölkerung überlassen; ein vierter aber, von der
Scholle gelöst, hat sich am waldigen Stromesufer seine sturmdurchwehte Baracke
gebaut oder sich eine Kammer in einer solchen gemiethet und nennt nur
den >morschen Kahn, den Seelenverkäufer, sein Eigenthum, der dort, an
das zerfaserte Seil gebunden, von den Wellen des Sees geschaukelt wird. Im
Grunde ist es um diese Fischer, die von dem unfruchtbaren Wasser ernten,
noch besser bestellt, als um jene Sandbauern, die von der unwirthbaren Erde
ernten wollen. Immer wachsen die Fische in der tiefen Flut; und scheucht sie
auch ein Sturm oft wochenlang von den Reusen d.es kundigen Fischers in die
Tiefe und an daS unterhöhlte Ufer, so werden sie nach vorübergegangenen
Stürmen desto sicherer in des Netzes Windung gelockt. Wollte aber der
Bauer seine Körner in den Flugsand säen, wie viele Thränen müßte er mit
einstreuen, ohne aufsprießende Freuden erwarten zu dürfen! Selbst der Buch-


ihrer Gassenhauermusik in höchst ergötzlich kleinstädtischer Beschränktheit fort¬
lebt. Ein herrliches Ländchen, um den seit zwanzig Jahren abgestorbenen Ge¬
schmack im äußern Leben, in Wissenschaft, Dichtung und Kunst aufs gründ¬
lichste zu repetiren. Wir haben während unsres dortigen Aufenthaltes alle die
schönen alten Lieder gelernt, die jetzt längst aus dem poetischen und musika¬
lischen Gedächtnisse unsres Volkes entschwanden, an dieser Stelle jedoch sich
des Reizes der Neuheit noch nicht entäußert, haben. — Bedenken wir die
Fortschritte, die eine Bevölkerung unter einer klugen Regierung in zwanzig
Jahren machen kann, so werden wir einen Begriff von dem Zustande der nie¬
dern Classe, wol aber auch den Trost gewinnen, daß nach andern zwanzig
Jahren auch unsre jetzigen musikalischen Bravourstücke, und andrerseits unsre
jetzigen Bildungsmittel in diese geistige Einöde gedrungen sein möchten.

Mindestens der niedern Volksclasse wünschten wir diesen Fortschritt in
kürzerer Zeit. Wir hätten aber auch für sie noch vieles andre Wünschens-
werthe, was nicht durch die Wohlthat der staatlichen Erziehung, sondern nur
durch materielles Wohlthun zu erringen wäre: wir wünschten vielen Hun¬
derten Erlösung aus einem grenzenlosen Elend. — Es gibt in Masuren
fruchtbare, überaus fruchtbare Strecken, und diese sind mit reinlichen, schmucken,
blühenden Dörfern besät. Da erheben sich Hunderte von kleinen, aus Holz
geschnitzten Thürmchen, die Zeugen eines wohlhäbigen, sich über die menschliche
Bedürftigkeit erhebenden Zustandes; da umschatten Linden und Eichen die
festen, vom verderbenden, fauligen Mose gereinigten Strohdächer, und Hunderte
von Störchen bauen dort ihre glückweissagenden, friedlichen Nester. Es ist ein
erfreulicher Anblick. Ein andrer Theil der Ländereien ist durch ausgedehnte
Domänen und durch große, reiche Güter fortgenommen; ein drittes Quan¬
tum, aus sandigem,'hakenlosen, dürrem Boden bestehend, wo außer kärglichem
Buchweizen kein andres Kräutlein Wurzel und Nahrung gewinnen kann, ist
einem dritten Theil der Bevölkerung überlassen; ein vierter aber, von der
Scholle gelöst, hat sich am waldigen Stromesufer seine sturmdurchwehte Baracke
gebaut oder sich eine Kammer in einer solchen gemiethet und nennt nur
den >morschen Kahn, den Seelenverkäufer, sein Eigenthum, der dort, an
das zerfaserte Seil gebunden, von den Wellen des Sees geschaukelt wird. Im
Grunde ist es um diese Fischer, die von dem unfruchtbaren Wasser ernten,
noch besser bestellt, als um jene Sandbauern, die von der unwirthbaren Erde
ernten wollen. Immer wachsen die Fische in der tiefen Flut; und scheucht sie
auch ein Sturm oft wochenlang von den Reusen d.es kundigen Fischers in die
Tiefe und an daS unterhöhlte Ufer, so werden sie nach vorübergegangenen
Stürmen desto sicherer in des Netzes Windung gelockt. Wollte aber der
Bauer seine Körner in den Flugsand säen, wie viele Thränen müßte er mit
einstreuen, ohne aufsprießende Freuden erwarten zu dürfen! Selbst der Buch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101963"/>
            <p xml:id="ID_1174" prev="#ID_1173"> ihrer Gassenhauermusik in höchst ergötzlich kleinstädtischer Beschränktheit fort¬<lb/>
lebt. Ein herrliches Ländchen, um den seit zwanzig Jahren abgestorbenen Ge¬<lb/>
schmack im äußern Leben, in Wissenschaft, Dichtung und Kunst aufs gründ¬<lb/>
lichste zu repetiren. Wir haben während unsres dortigen Aufenthaltes alle die<lb/>
schönen alten Lieder gelernt, die jetzt längst aus dem poetischen und musika¬<lb/>
lischen Gedächtnisse unsres Volkes entschwanden, an dieser Stelle jedoch sich<lb/>
des Reizes der Neuheit noch nicht entäußert, haben. &#x2014; Bedenken wir die<lb/>
Fortschritte, die eine Bevölkerung unter einer klugen Regierung in zwanzig<lb/>
Jahren machen kann, so werden wir einen Begriff von dem Zustande der nie¬<lb/>
dern Classe, wol aber auch den Trost gewinnen, daß nach andern zwanzig<lb/>
Jahren auch unsre jetzigen musikalischen Bravourstücke, und andrerseits unsre<lb/>
jetzigen Bildungsmittel in diese geistige Einöde gedrungen sein möchten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1175" next="#ID_1176"> Mindestens der niedern Volksclasse wünschten wir diesen Fortschritt in<lb/>
kürzerer Zeit. Wir hätten aber auch für sie noch vieles andre Wünschens-<lb/>
werthe, was nicht durch die Wohlthat der staatlichen Erziehung, sondern nur<lb/>
durch materielles Wohlthun zu erringen wäre: wir wünschten vielen Hun¬<lb/>
derten Erlösung aus einem grenzenlosen Elend. &#x2014; Es gibt in Masuren<lb/>
fruchtbare, überaus fruchtbare Strecken, und diese sind mit reinlichen, schmucken,<lb/>
blühenden Dörfern besät. Da erheben sich Hunderte von kleinen, aus Holz<lb/>
geschnitzten Thürmchen, die Zeugen eines wohlhäbigen, sich über die menschliche<lb/>
Bedürftigkeit erhebenden Zustandes; da umschatten Linden und Eichen die<lb/>
festen, vom verderbenden, fauligen Mose gereinigten Strohdächer, und Hunderte<lb/>
von Störchen bauen dort ihre glückweissagenden, friedlichen Nester. Es ist ein<lb/>
erfreulicher Anblick. Ein andrer Theil der Ländereien ist durch ausgedehnte<lb/>
Domänen und durch große, reiche Güter fortgenommen; ein drittes Quan¬<lb/>
tum, aus sandigem,'hakenlosen, dürrem Boden bestehend, wo außer kärglichem<lb/>
Buchweizen kein andres Kräutlein Wurzel und Nahrung gewinnen kann, ist<lb/>
einem dritten Theil der Bevölkerung überlassen; ein vierter aber, von der<lb/>
Scholle gelöst, hat sich am waldigen Stromesufer seine sturmdurchwehte Baracke<lb/>
gebaut oder sich eine Kammer in einer solchen gemiethet und nennt nur<lb/>
den &gt;morschen Kahn, den Seelenverkäufer, sein Eigenthum, der dort, an<lb/>
das zerfaserte Seil gebunden, von den Wellen des Sees geschaukelt wird. Im<lb/>
Grunde ist es um diese Fischer, die von dem unfruchtbaren Wasser ernten,<lb/>
noch besser bestellt, als um jene Sandbauern, die von der unwirthbaren Erde<lb/>
ernten wollen. Immer wachsen die Fische in der tiefen Flut; und scheucht sie<lb/>
auch ein Sturm oft wochenlang von den Reusen d.es kundigen Fischers in die<lb/>
Tiefe und an daS unterhöhlte Ufer, so werden sie nach vorübergegangenen<lb/>
Stürmen desto sicherer in des Netzes Windung gelockt. Wollte aber der<lb/>
Bauer seine Körner in den Flugsand säen, wie viele Thränen müßte er mit<lb/>
einstreuen, ohne aufsprießende Freuden erwarten zu dürfen! Selbst der Buch-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0436] ihrer Gassenhauermusik in höchst ergötzlich kleinstädtischer Beschränktheit fort¬ lebt. Ein herrliches Ländchen, um den seit zwanzig Jahren abgestorbenen Ge¬ schmack im äußern Leben, in Wissenschaft, Dichtung und Kunst aufs gründ¬ lichste zu repetiren. Wir haben während unsres dortigen Aufenthaltes alle die schönen alten Lieder gelernt, die jetzt längst aus dem poetischen und musika¬ lischen Gedächtnisse unsres Volkes entschwanden, an dieser Stelle jedoch sich des Reizes der Neuheit noch nicht entäußert, haben. — Bedenken wir die Fortschritte, die eine Bevölkerung unter einer klugen Regierung in zwanzig Jahren machen kann, so werden wir einen Begriff von dem Zustande der nie¬ dern Classe, wol aber auch den Trost gewinnen, daß nach andern zwanzig Jahren auch unsre jetzigen musikalischen Bravourstücke, und andrerseits unsre jetzigen Bildungsmittel in diese geistige Einöde gedrungen sein möchten. Mindestens der niedern Volksclasse wünschten wir diesen Fortschritt in kürzerer Zeit. Wir hätten aber auch für sie noch vieles andre Wünschens- werthe, was nicht durch die Wohlthat der staatlichen Erziehung, sondern nur durch materielles Wohlthun zu erringen wäre: wir wünschten vielen Hun¬ derten Erlösung aus einem grenzenlosen Elend. — Es gibt in Masuren fruchtbare, überaus fruchtbare Strecken, und diese sind mit reinlichen, schmucken, blühenden Dörfern besät. Da erheben sich Hunderte von kleinen, aus Holz geschnitzten Thürmchen, die Zeugen eines wohlhäbigen, sich über die menschliche Bedürftigkeit erhebenden Zustandes; da umschatten Linden und Eichen die festen, vom verderbenden, fauligen Mose gereinigten Strohdächer, und Hunderte von Störchen bauen dort ihre glückweissagenden, friedlichen Nester. Es ist ein erfreulicher Anblick. Ein andrer Theil der Ländereien ist durch ausgedehnte Domänen und durch große, reiche Güter fortgenommen; ein drittes Quan¬ tum, aus sandigem,'hakenlosen, dürrem Boden bestehend, wo außer kärglichem Buchweizen kein andres Kräutlein Wurzel und Nahrung gewinnen kann, ist einem dritten Theil der Bevölkerung überlassen; ein vierter aber, von der Scholle gelöst, hat sich am waldigen Stromesufer seine sturmdurchwehte Baracke gebaut oder sich eine Kammer in einer solchen gemiethet und nennt nur den >morschen Kahn, den Seelenverkäufer, sein Eigenthum, der dort, an das zerfaserte Seil gebunden, von den Wellen des Sees geschaukelt wird. Im Grunde ist es um diese Fischer, die von dem unfruchtbaren Wasser ernten, noch besser bestellt, als um jene Sandbauern, die von der unwirthbaren Erde ernten wollen. Immer wachsen die Fische in der tiefen Flut; und scheucht sie auch ein Sturm oft wochenlang von den Reusen d.es kundigen Fischers in die Tiefe und an daS unterhöhlte Ufer, so werden sie nach vorübergegangenen Stürmen desto sicherer in des Netzes Windung gelockt. Wollte aber der Bauer seine Körner in den Flugsand säen, wie viele Thränen müßte er mit einstreuen, ohne aufsprießende Freuden erwarten zu dürfen! Selbst der Buch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/436
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/436>, abgerufen am 28.07.2024.