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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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der Griechen soll der Dichter sein Auge schärfen, seine Hand üben, aber das
Material und den Gegenstand seiner Kunstwerke muß er aus seinem Vater¬
land nehmen. Ganz mit Recht bemerkt der Verfasser, daß, wenn man das
Christenthum als das Lebensprincip der neuern Zeit auffaßt, die antike Bildung
mit demselben sehr wohl vereinbart werden kann. Wenn man sich aber dem einen
oder dem andern Princip ausschließlich hingibt, so führt das zuerst zu einer heftigen
Reaction, dann zu einem Taumel in den Ansichten, zuletzt zu einem Skepticis¬
mus, in dem man lediglich nach dem Wunderlichen greift, kurz zu der ganzen
Entwicklung, die wir seit ->79i- wirklich durchgemacht haben. Als Reaction
gegen das gräcisirende Weltbürgerthum trat die Romantik ein, die im Anfang
nur im Interesse der Freiheit und Vielseitigkeit gepflegt, dann als Herrscherin
proclamirt wurde, bis man endlich, nachdem sich die eine Krücke so morsch er¬
wiesen hatte wie die andere, zu dem unvermeidlichen Entschluß kam, aus eignen
Füßen zu stehen. Bis jetzt ist das noch nicht recht gelungen, weil wir den
freien Gebrauch unsrer Gliedmaßen erst wieder lernen mußten; aber das ist
durchaus kein Grund, aufs neue nach der alten Krücke zu greifen.

Nur noch eine Bemerkung zur Abwehr von Mißverständnissen. Wir haben
anderwärts auseinandergesetzt, daß Goethe und Schiller mit vollem Recht sich
auf daS Griechenthum stützten, weil ihnen das damalige deutsche Leben nichts
bot. Wir sind aber jetzt in einer weit günstigern Lage, und wenn unsre pessi¬
mistischen Dichter das verkennen, wenn sie uns unsre Gegenwart so schildern,
als wären wir im Lazarett) oder im Tollhaus, so liegt das nur darin, daß sie
an Bildung des Geistes und Herzens hinter ihrer Zeit zurückgeblic'ben sind.
Dichter mit einer reifern Bildung werden kommen und dem Princip des Rea¬
lismus die richtige Wendung geben d. h. sie werden zeigen, daß real keines¬
wegs dasjenige ist, was der Idee widerspricht. Spuren einer bessern Absicht
sind ja überall schon, vorhanden.




Fouche.*)

Fouchs sagte zu Napoleon I.: "Ich besitze nicht die Kunst, in den Herzen
zu lesen. So oft also ein Mensch sein Leben opfern will, um das Ihre an-



') Von unserm pariser Korrespondenten, nach der IZioM-kxKi" univsrsslls von Mich and.
Er gibt über dies Buch folgende Notizen: ,,An der ersten Auflage arbeiteten Männer wie
Humboldt, Arago, Cuvier, Benjamin Konstant, Man. Staöl n, a. mit. Die neue Auflage,
von welcher Baude erschiene", behielt die vorzüglichsten Artikel berühmter Schriftsteller bei,
insofern die Fortschritte der Wissenschaft keine Aenderung nothwendig machen. Für die neuen
Artikel sind für alle wichtigen Personen die namhafteste" Federn Frankreichs gewonnen"
Wir nennen Cousin, Guizot, Villcmai", Thierry, Henri Martin, Jacob, Thiers, Remusat,

der Griechen soll der Dichter sein Auge schärfen, seine Hand üben, aber das
Material und den Gegenstand seiner Kunstwerke muß er aus seinem Vater¬
land nehmen. Ganz mit Recht bemerkt der Verfasser, daß, wenn man das
Christenthum als das Lebensprincip der neuern Zeit auffaßt, die antike Bildung
mit demselben sehr wohl vereinbart werden kann. Wenn man sich aber dem einen
oder dem andern Princip ausschließlich hingibt, so führt das zuerst zu einer heftigen
Reaction, dann zu einem Taumel in den Ansichten, zuletzt zu einem Skepticis¬
mus, in dem man lediglich nach dem Wunderlichen greift, kurz zu der ganzen
Entwicklung, die wir seit ->79i- wirklich durchgemacht haben. Als Reaction
gegen das gräcisirende Weltbürgerthum trat die Romantik ein, die im Anfang
nur im Interesse der Freiheit und Vielseitigkeit gepflegt, dann als Herrscherin
proclamirt wurde, bis man endlich, nachdem sich die eine Krücke so morsch er¬
wiesen hatte wie die andere, zu dem unvermeidlichen Entschluß kam, aus eignen
Füßen zu stehen. Bis jetzt ist das noch nicht recht gelungen, weil wir den
freien Gebrauch unsrer Gliedmaßen erst wieder lernen mußten; aber das ist
durchaus kein Grund, aufs neue nach der alten Krücke zu greifen.

Nur noch eine Bemerkung zur Abwehr von Mißverständnissen. Wir haben
anderwärts auseinandergesetzt, daß Goethe und Schiller mit vollem Recht sich
auf daS Griechenthum stützten, weil ihnen das damalige deutsche Leben nichts
bot. Wir sind aber jetzt in einer weit günstigern Lage, und wenn unsre pessi¬
mistischen Dichter das verkennen, wenn sie uns unsre Gegenwart so schildern,
als wären wir im Lazarett) oder im Tollhaus, so liegt das nur darin, daß sie
an Bildung des Geistes und Herzens hinter ihrer Zeit zurückgeblic'ben sind.
Dichter mit einer reifern Bildung werden kommen und dem Princip des Rea¬
lismus die richtige Wendung geben d. h. sie werden zeigen, daß real keines¬
wegs dasjenige ist, was der Idee widerspricht. Spuren einer bessern Absicht
sind ja überall schon, vorhanden.




Fouche.*)

Fouchs sagte zu Napoleon I.: „Ich besitze nicht die Kunst, in den Herzen
zu lesen. So oft also ein Mensch sein Leben opfern will, um das Ihre an-



') Von unserm pariser Korrespondenten, nach der IZioM-kxKi« univsrsslls von Mich and.
Er gibt über dies Buch folgende Notizen: ,,An der ersten Auflage arbeiteten Männer wie
Humboldt, Arago, Cuvier, Benjamin Konstant, Man. Staöl n, a. mit. Die neue Auflage,
von welcher Baude erschiene», behielt die vorzüglichsten Artikel berühmter Schriftsteller bei,
insofern die Fortschritte der Wissenschaft keine Aenderung nothwendig machen. Für die neuen
Artikel sind für alle wichtigen Personen die namhafteste» Federn Frankreichs gewonnen«
Wir nennen Cousin, Guizot, Villcmai», Thierry, Henri Martin, Jacob, Thiers, Remusat,
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[0218] der Griechen soll der Dichter sein Auge schärfen, seine Hand üben, aber das Material und den Gegenstand seiner Kunstwerke muß er aus seinem Vater¬ land nehmen. Ganz mit Recht bemerkt der Verfasser, daß, wenn man das Christenthum als das Lebensprincip der neuern Zeit auffaßt, die antike Bildung mit demselben sehr wohl vereinbart werden kann. Wenn man sich aber dem einen oder dem andern Princip ausschließlich hingibt, so führt das zuerst zu einer heftigen Reaction, dann zu einem Taumel in den Ansichten, zuletzt zu einem Skepticis¬ mus, in dem man lediglich nach dem Wunderlichen greift, kurz zu der ganzen Entwicklung, die wir seit ->79i- wirklich durchgemacht haben. Als Reaction gegen das gräcisirende Weltbürgerthum trat die Romantik ein, die im Anfang nur im Interesse der Freiheit und Vielseitigkeit gepflegt, dann als Herrscherin proclamirt wurde, bis man endlich, nachdem sich die eine Krücke so morsch er¬ wiesen hatte wie die andere, zu dem unvermeidlichen Entschluß kam, aus eignen Füßen zu stehen. Bis jetzt ist das noch nicht recht gelungen, weil wir den freien Gebrauch unsrer Gliedmaßen erst wieder lernen mußten; aber das ist durchaus kein Grund, aufs neue nach der alten Krücke zu greifen. Nur noch eine Bemerkung zur Abwehr von Mißverständnissen. Wir haben anderwärts auseinandergesetzt, daß Goethe und Schiller mit vollem Recht sich auf daS Griechenthum stützten, weil ihnen das damalige deutsche Leben nichts bot. Wir sind aber jetzt in einer weit günstigern Lage, und wenn unsre pessi¬ mistischen Dichter das verkennen, wenn sie uns unsre Gegenwart so schildern, als wären wir im Lazarett) oder im Tollhaus, so liegt das nur darin, daß sie an Bildung des Geistes und Herzens hinter ihrer Zeit zurückgeblic'ben sind. Dichter mit einer reifern Bildung werden kommen und dem Princip des Rea¬ lismus die richtige Wendung geben d. h. sie werden zeigen, daß real keines¬ wegs dasjenige ist, was der Idee widerspricht. Spuren einer bessern Absicht sind ja überall schon, vorhanden. Fouche.*) Fouchs sagte zu Napoleon I.: „Ich besitze nicht die Kunst, in den Herzen zu lesen. So oft also ein Mensch sein Leben opfern will, um das Ihre an- ') Von unserm pariser Korrespondenten, nach der IZioM-kxKi« univsrsslls von Mich and. Er gibt über dies Buch folgende Notizen: ,,An der ersten Auflage arbeiteten Männer wie Humboldt, Arago, Cuvier, Benjamin Konstant, Man. Staöl n, a. mit. Die neue Auflage, von welcher Baude erschiene», behielt die vorzüglichsten Artikel berühmter Schriftsteller bei, insofern die Fortschritte der Wissenschaft keine Aenderung nothwendig machen. Für die neuen Artikel sind für alle wichtigen Personen die namhafteste» Federn Frankreichs gewonnen« Wir nennen Cousin, Guizot, Villcmai», Thierry, Henri Martin, Jacob, Thiers, Remusat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/218>, abgerufen am 26.07.2024.