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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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mus besteht. -- Nach der Kritik des Radicalismus geht der Verfasser auf
die sogenannte Vcrmittlungstheologie über.

"Dieser vielfach abgeschwächte und verdeckte, dieser, ich möchte sagen, ver¬
schämte Supranaturalismus, der eine tiefinnerliche Abneigung gegen die Wunder
hat und so viel nur immer möglich von ihnen im Einzelnen beseitigt, ohne
doch den Wunderbegriff im Ganzen los zu werden, ist deshalb besonderer Ver¬
folgung bis in seine letzten Ausgänge werth, weil die Phrase in diesen
Kreisen eine so schreckliche Herrschaft gewonnen hat und weil durch eine schärfere
Analyse der hier geltenden Stichworte die Besprechung eines großen und
wichtigen Theiles unsrer modernen Dogmatik überflüssig gemacht wird." --
Wir wollen die Wichtigkeit dieser Untersuchung nicht in Abrede stellen,, aber
wir können nicht leugnen, sie ist ziemlich ermüdend. Es liegt das nicht in
der Schuld des Verfassers: Non-entitälen zu classistciren ist immer ein un¬
dankbares Geschäft, obgleich man es zuweilen nicht umgehen kann. Weit an¬
ziehender ist die Kritik der neulutherischen Orthodoxie, die bereits in Hengstenberg
einen Erzketzer sieht und die mit vollen Segeln der alleinseligmachenden Kirche
zusteuert. Es ist in diesen Figuren, so unbequem sie im wirklichen Leben sind,
ein gewisser handgreiflicher Realismus, der unwillkürlich den Humor heraus¬
fordert.

Mehr als im Anfang des Werks macht sich gegen den Schluß hin eine
gewisse Unsicherheit im theologischen Standpunkt des Verfassers geltend. Dar¬
aus erklärt sich auch, daß er wohlgesinnte, aber höchst unbedeutende Schrift¬
steller mit Schonung, ja mit Vorliebe behandelt, z. B. den sogenannten deut¬
schen Theologen. Er hat früher so lebhaft gegen die blos negative Richtung
der frühern Kritiker geeifert, daß er sich seinerseits verpflichtet fühlt, einen
Positiven Abschluß zu versuchen; aber dieser Abschluß hat keine feste Grund¬
lage. Er verheißt eine Theologie der Zukunft, die zugleich speculativ, historisch
und ethisch sein soll.-- An Speculation soll sie enthalten: "die Ueberwindung
des supranaturalistischen, unserm ganzen Denken fremd gewordenen Schemas;
die klare Erkenntniß, daß der Inhalt des Christenthums bei einer solchen Be¬
seitigung nichts verliert, als die Form der Aeußerlichkeit, der Willkür u. s. w."
^ Das ist eine wunderliche Speculation, der man von vornherein vorschreiben
will, was sie für ein Resultat gewinnen soll ! Es wird doch wol wieder eine
"cuc Scholastik daraus werden. -- Historisch soll sie sein, insofern sie auch
die kanonischen Schriften den Maßstab strenger Kritik anlegt, aber auch
insofern sie sich "in die Vergangenheit vertieft, jede Zeit und ihre Schöpfungen
Alles ihren eignen Maßen mißt, für die Größe und Herrlichkeit des prvduetiv
religiösen Lebens, der neuen Quellpunkte göttlicher Offenbarung das Auge
offen hält." -- Inwiefern unterscheidet sich also die Theologie der Zukunft von
der Geschichte im eigentlichen Sinn? Diese soll doch auch die Augen sür alle


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mus besteht. — Nach der Kritik des Radicalismus geht der Verfasser auf
die sogenannte Vcrmittlungstheologie über.

„Dieser vielfach abgeschwächte und verdeckte, dieser, ich möchte sagen, ver¬
schämte Supranaturalismus, der eine tiefinnerliche Abneigung gegen die Wunder
hat und so viel nur immer möglich von ihnen im Einzelnen beseitigt, ohne
doch den Wunderbegriff im Ganzen los zu werden, ist deshalb besonderer Ver¬
folgung bis in seine letzten Ausgänge werth, weil die Phrase in diesen
Kreisen eine so schreckliche Herrschaft gewonnen hat und weil durch eine schärfere
Analyse der hier geltenden Stichworte die Besprechung eines großen und
wichtigen Theiles unsrer modernen Dogmatik überflüssig gemacht wird." —
Wir wollen die Wichtigkeit dieser Untersuchung nicht in Abrede stellen,, aber
wir können nicht leugnen, sie ist ziemlich ermüdend. Es liegt das nicht in
der Schuld des Verfassers: Non-entitälen zu classistciren ist immer ein un¬
dankbares Geschäft, obgleich man es zuweilen nicht umgehen kann. Weit an¬
ziehender ist die Kritik der neulutherischen Orthodoxie, die bereits in Hengstenberg
einen Erzketzer sieht und die mit vollen Segeln der alleinseligmachenden Kirche
zusteuert. Es ist in diesen Figuren, so unbequem sie im wirklichen Leben sind,
ein gewisser handgreiflicher Realismus, der unwillkürlich den Humor heraus¬
fordert.

Mehr als im Anfang des Werks macht sich gegen den Schluß hin eine
gewisse Unsicherheit im theologischen Standpunkt des Verfassers geltend. Dar¬
aus erklärt sich auch, daß er wohlgesinnte, aber höchst unbedeutende Schrift¬
steller mit Schonung, ja mit Vorliebe behandelt, z. B. den sogenannten deut¬
schen Theologen. Er hat früher so lebhaft gegen die blos negative Richtung
der frühern Kritiker geeifert, daß er sich seinerseits verpflichtet fühlt, einen
Positiven Abschluß zu versuchen; aber dieser Abschluß hat keine feste Grund¬
lage. Er verheißt eine Theologie der Zukunft, die zugleich speculativ, historisch
und ethisch sein soll.— An Speculation soll sie enthalten: „die Ueberwindung
des supranaturalistischen, unserm ganzen Denken fremd gewordenen Schemas;
die klare Erkenntniß, daß der Inhalt des Christenthums bei einer solchen Be¬
seitigung nichts verliert, als die Form der Aeußerlichkeit, der Willkür u. s. w."
^ Das ist eine wunderliche Speculation, der man von vornherein vorschreiben
will, was sie für ein Resultat gewinnen soll ! Es wird doch wol wieder eine
"cuc Scholastik daraus werden. — Historisch soll sie sein, insofern sie auch
die kanonischen Schriften den Maßstab strenger Kritik anlegt, aber auch
insofern sie sich „in die Vergangenheit vertieft, jede Zeit und ihre Schöpfungen
Alles ihren eignen Maßen mißt, für die Größe und Herrlichkeit des prvduetiv
religiösen Lebens, der neuen Quellpunkte göttlicher Offenbarung das Auge
offen hält." — Inwiefern unterscheidet sich also die Theologie der Zukunft von
der Geschichte im eigentlichen Sinn? Diese soll doch auch die Augen sür alle


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[0187] mus besteht. — Nach der Kritik des Radicalismus geht der Verfasser auf die sogenannte Vcrmittlungstheologie über. „Dieser vielfach abgeschwächte und verdeckte, dieser, ich möchte sagen, ver¬ schämte Supranaturalismus, der eine tiefinnerliche Abneigung gegen die Wunder hat und so viel nur immer möglich von ihnen im Einzelnen beseitigt, ohne doch den Wunderbegriff im Ganzen los zu werden, ist deshalb besonderer Ver¬ folgung bis in seine letzten Ausgänge werth, weil die Phrase in diesen Kreisen eine so schreckliche Herrschaft gewonnen hat und weil durch eine schärfere Analyse der hier geltenden Stichworte die Besprechung eines großen und wichtigen Theiles unsrer modernen Dogmatik überflüssig gemacht wird." — Wir wollen die Wichtigkeit dieser Untersuchung nicht in Abrede stellen,, aber wir können nicht leugnen, sie ist ziemlich ermüdend. Es liegt das nicht in der Schuld des Verfassers: Non-entitälen zu classistciren ist immer ein un¬ dankbares Geschäft, obgleich man es zuweilen nicht umgehen kann. Weit an¬ ziehender ist die Kritik der neulutherischen Orthodoxie, die bereits in Hengstenberg einen Erzketzer sieht und die mit vollen Segeln der alleinseligmachenden Kirche zusteuert. Es ist in diesen Figuren, so unbequem sie im wirklichen Leben sind, ein gewisser handgreiflicher Realismus, der unwillkürlich den Humor heraus¬ fordert. Mehr als im Anfang des Werks macht sich gegen den Schluß hin eine gewisse Unsicherheit im theologischen Standpunkt des Verfassers geltend. Dar¬ aus erklärt sich auch, daß er wohlgesinnte, aber höchst unbedeutende Schrift¬ steller mit Schonung, ja mit Vorliebe behandelt, z. B. den sogenannten deut¬ schen Theologen. Er hat früher so lebhaft gegen die blos negative Richtung der frühern Kritiker geeifert, daß er sich seinerseits verpflichtet fühlt, einen Positiven Abschluß zu versuchen; aber dieser Abschluß hat keine feste Grund¬ lage. Er verheißt eine Theologie der Zukunft, die zugleich speculativ, historisch und ethisch sein soll.— An Speculation soll sie enthalten: „die Ueberwindung des supranaturalistischen, unserm ganzen Denken fremd gewordenen Schemas; die klare Erkenntniß, daß der Inhalt des Christenthums bei einer solchen Be¬ seitigung nichts verliert, als die Form der Aeußerlichkeit, der Willkür u. s. w." ^ Das ist eine wunderliche Speculation, der man von vornherein vorschreiben will, was sie für ein Resultat gewinnen soll ! Es wird doch wol wieder eine "cuc Scholastik daraus werden. — Historisch soll sie sein, insofern sie auch die kanonischen Schriften den Maßstab strenger Kritik anlegt, aber auch insofern sie sich „in die Vergangenheit vertieft, jede Zeit und ihre Schöpfungen Alles ihren eignen Maßen mißt, für die Größe und Herrlichkeit des prvduetiv religiösen Lebens, der neuen Quellpunkte göttlicher Offenbarung das Auge offen hält." — Inwiefern unterscheidet sich also die Theologie der Zukunft von der Geschichte im eigentlichen Sinn? Diese soll doch auch die Augen sür alle 23*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/187>, abgerufen am 05.07.2024.