Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sah: der Zweck heiligt die Mittel, keinen Anstoß mehr erregte. -- Noch schlimmer
wurde die Sache, als das erste Jahr des Krieges die Schwächen der englischen
Militärversassung an den Teig brachte. Sofort wetteiferten die Demokraten
mit den Absolutisten, England als einen Staat darzustellen, der seinem Unter¬
gang entgegengehe, und seine Verfassung, die man bisher als das Palladium
der Freiheit geehrt, als eine chaotische, zusammenhanglose Masse veralteter Mi߬
bräuche zu brandmarken.' Da die englische Presse nicht gewöhnt' ist, sich irgend
einen Zügel anzulegen, so fanden diese Stimmen auch bei ihr Anklang, und
während sonst jeder echte Engländer das entschiedenste Mißtrauen gegen stehende
Heere zeigt, schien es jetzt beinahe so, als wolle man der Möglichkeit einer
tüchtigen Heerentwicklung so manche der alten Rechte und Freiheiten opfern;
wenigstens mußte es das Ausland so auffassen, welches nicht daran denkt, daß
die Engländer es mit ihren Worten nicht so genau nehmen; daß sie um so
dreister und rücksichtsloser an ihrer Verfassung rütteln, je fester sie von ihrer
Unerschütterlichkeit überzeugt sind.

Diese Verirrung ist jetzt, Gott sei Dank! vorüber. Die ruhige Ueber-
legung tritt wieder in den Vordergrund, und man begreift, daß der augen¬
blickliche Erfolg nicht ausreicht, über festgewurzelte Institutionen zu entscheiden,
an denen die Fortdauer einer Nation hängt. Die augenblickliche Noth ist
vorüber; man ist nicht mehr gezwungen, um des Erfolgs der französischen
Waffen willen den Bonapartismus mit in den Kauf zu nehmen. Bei den
Engländern regt sich wieder der Stolz ihres reichen historischen Lebens, und
in Frankreich taucht eine zwar nicht laute, aber entschlossene und folgerichtige
Opposition gegen den Bonapartismus auf, als deren geistvollsten Vertreter wir
den Verfasser des vorliegenden Buchs mit Freuden begrüßen.

Aber man möge uns nicht mißverstehen. Für uns ist der Bonapartismus
nicht identisch mit der Regierung des Kaiser Napoleon und seinem Hause.
Die Dynastie kann bestehen auch ohne ihn, so wie sich die charakteristischen
Erscheinungen, die sich an jenen Begriff knüpfen, auch in andern Ländern und
Regierungen zeigen. Der Bonapartismus ist überall vorhanden, wo der Ge¬
walthaber das, was ihm für augenblicklich zweckmäßig gilt, über das Recht
setzt, und wo das Volk seine Freiheit gering anschlägt, wenn ihm dafür mate¬
rielle Vortheile geboten werden. Der Bonapartismus ist die Erneuung des
alten Systems im römischen Kaiserreich, wo die höchsten Angelegenheiten der
Menschheit in der Art eines Glücksspiels entschieden wurden.

Dagegen glauben wir, daß sich eine freie Verfassung im Lauf der Zeit
unter der Familie Bonaparte ebensogut entwickeln kann, wie unter der Familie
Bourbon. Wir sind weder Anhänger Sr. Majestät Heinrichs V., noch des
Hauses Orleans, am wenigsten, wenn dasselbe sich wirklich der ältern Linie
unterwerfen sollte; wir wünschen, daß Frankreich eine neue Revolution erspart


sah: der Zweck heiligt die Mittel, keinen Anstoß mehr erregte. — Noch schlimmer
wurde die Sache, als das erste Jahr des Krieges die Schwächen der englischen
Militärversassung an den Teig brachte. Sofort wetteiferten die Demokraten
mit den Absolutisten, England als einen Staat darzustellen, der seinem Unter¬
gang entgegengehe, und seine Verfassung, die man bisher als das Palladium
der Freiheit geehrt, als eine chaotische, zusammenhanglose Masse veralteter Mi߬
bräuche zu brandmarken.' Da die englische Presse nicht gewöhnt' ist, sich irgend
einen Zügel anzulegen, so fanden diese Stimmen auch bei ihr Anklang, und
während sonst jeder echte Engländer das entschiedenste Mißtrauen gegen stehende
Heere zeigt, schien es jetzt beinahe so, als wolle man der Möglichkeit einer
tüchtigen Heerentwicklung so manche der alten Rechte und Freiheiten opfern;
wenigstens mußte es das Ausland so auffassen, welches nicht daran denkt, daß
die Engländer es mit ihren Worten nicht so genau nehmen; daß sie um so
dreister und rücksichtsloser an ihrer Verfassung rütteln, je fester sie von ihrer
Unerschütterlichkeit überzeugt sind.

Diese Verirrung ist jetzt, Gott sei Dank! vorüber. Die ruhige Ueber-
legung tritt wieder in den Vordergrund, und man begreift, daß der augen¬
blickliche Erfolg nicht ausreicht, über festgewurzelte Institutionen zu entscheiden,
an denen die Fortdauer einer Nation hängt. Die augenblickliche Noth ist
vorüber; man ist nicht mehr gezwungen, um des Erfolgs der französischen
Waffen willen den Bonapartismus mit in den Kauf zu nehmen. Bei den
Engländern regt sich wieder der Stolz ihres reichen historischen Lebens, und
in Frankreich taucht eine zwar nicht laute, aber entschlossene und folgerichtige
Opposition gegen den Bonapartismus auf, als deren geistvollsten Vertreter wir
den Verfasser des vorliegenden Buchs mit Freuden begrüßen.

Aber man möge uns nicht mißverstehen. Für uns ist der Bonapartismus
nicht identisch mit der Regierung des Kaiser Napoleon und seinem Hause.
Die Dynastie kann bestehen auch ohne ihn, so wie sich die charakteristischen
Erscheinungen, die sich an jenen Begriff knüpfen, auch in andern Ländern und
Regierungen zeigen. Der Bonapartismus ist überall vorhanden, wo der Ge¬
walthaber das, was ihm für augenblicklich zweckmäßig gilt, über das Recht
setzt, und wo das Volk seine Freiheit gering anschlägt, wenn ihm dafür mate¬
rielle Vortheile geboten werden. Der Bonapartismus ist die Erneuung des
alten Systems im römischen Kaiserreich, wo die höchsten Angelegenheiten der
Menschheit in der Art eines Glücksspiels entschieden wurden.

Dagegen glauben wir, daß sich eine freie Verfassung im Lauf der Zeit
unter der Familie Bonaparte ebensogut entwickeln kann, wie unter der Familie
Bourbon. Wir sind weder Anhänger Sr. Majestät Heinrichs V., noch des
Hauses Orleans, am wenigsten, wenn dasselbe sich wirklich der ältern Linie
unterwerfen sollte; wir wünschen, daß Frankreich eine neue Revolution erspart


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101683"/>
          <p xml:id="ID_378" prev="#ID_377"> sah: der Zweck heiligt die Mittel, keinen Anstoß mehr erregte. &#x2014; Noch schlimmer<lb/>
wurde die Sache, als das erste Jahr des Krieges die Schwächen der englischen<lb/>
Militärversassung an den Teig brachte. Sofort wetteiferten die Demokraten<lb/>
mit den Absolutisten, England als einen Staat darzustellen, der seinem Unter¬<lb/>
gang entgegengehe, und seine Verfassung, die man bisher als das Palladium<lb/>
der Freiheit geehrt, als eine chaotische, zusammenhanglose Masse veralteter Mi߬<lb/>
bräuche zu brandmarken.' Da die englische Presse nicht gewöhnt' ist, sich irgend<lb/>
einen Zügel anzulegen, so fanden diese Stimmen auch bei ihr Anklang, und<lb/>
während sonst jeder echte Engländer das entschiedenste Mißtrauen gegen stehende<lb/>
Heere zeigt, schien es jetzt beinahe so, als wolle man der Möglichkeit einer<lb/>
tüchtigen Heerentwicklung so manche der alten Rechte und Freiheiten opfern;<lb/>
wenigstens mußte es das Ausland so auffassen, welches nicht daran denkt, daß<lb/>
die Engländer es mit ihren Worten nicht so genau nehmen; daß sie um so<lb/>
dreister und rücksichtsloser an ihrer Verfassung rütteln, je fester sie von ihrer<lb/>
Unerschütterlichkeit überzeugt sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_379"> Diese Verirrung ist jetzt, Gott sei Dank! vorüber. Die ruhige Ueber-<lb/>
legung tritt wieder in den Vordergrund, und man begreift, daß der augen¬<lb/>
blickliche Erfolg nicht ausreicht, über festgewurzelte Institutionen zu entscheiden,<lb/>
an denen die Fortdauer einer Nation hängt. Die augenblickliche Noth ist<lb/>
vorüber; man ist nicht mehr gezwungen, um des Erfolgs der französischen<lb/>
Waffen willen den Bonapartismus mit in den Kauf zu nehmen. Bei den<lb/>
Engländern regt sich wieder der Stolz ihres reichen historischen Lebens, und<lb/>
in Frankreich taucht eine zwar nicht laute, aber entschlossene und folgerichtige<lb/>
Opposition gegen den Bonapartismus auf, als deren geistvollsten Vertreter wir<lb/>
den Verfasser des vorliegenden Buchs mit Freuden begrüßen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_380"> Aber man möge uns nicht mißverstehen. Für uns ist der Bonapartismus<lb/>
nicht identisch mit der Regierung des Kaiser Napoleon und seinem Hause.<lb/>
Die Dynastie kann bestehen auch ohne ihn, so wie sich die charakteristischen<lb/>
Erscheinungen, die sich an jenen Begriff knüpfen, auch in andern Ländern und<lb/>
Regierungen zeigen. Der Bonapartismus ist überall vorhanden, wo der Ge¬<lb/>
walthaber das, was ihm für augenblicklich zweckmäßig gilt, über das Recht<lb/>
setzt, und wo das Volk seine Freiheit gering anschlägt, wenn ihm dafür mate¬<lb/>
rielle Vortheile geboten werden. Der Bonapartismus ist die Erneuung des<lb/>
alten Systems im römischen Kaiserreich, wo die höchsten Angelegenheiten der<lb/>
Menschheit in der Art eines Glücksspiels entschieden wurden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_381" next="#ID_382"> Dagegen glauben wir, daß sich eine freie Verfassung im Lauf der Zeit<lb/>
unter der Familie Bonaparte ebensogut entwickeln kann, wie unter der Familie<lb/>
Bourbon. Wir sind weder Anhänger Sr. Majestät Heinrichs V., noch des<lb/>
Hauses Orleans, am wenigsten, wenn dasselbe sich wirklich der ältern Linie<lb/>
unterwerfen sollte; wir wünschen, daß Frankreich eine neue Revolution erspart</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0156] sah: der Zweck heiligt die Mittel, keinen Anstoß mehr erregte. — Noch schlimmer wurde die Sache, als das erste Jahr des Krieges die Schwächen der englischen Militärversassung an den Teig brachte. Sofort wetteiferten die Demokraten mit den Absolutisten, England als einen Staat darzustellen, der seinem Unter¬ gang entgegengehe, und seine Verfassung, die man bisher als das Palladium der Freiheit geehrt, als eine chaotische, zusammenhanglose Masse veralteter Mi߬ bräuche zu brandmarken.' Da die englische Presse nicht gewöhnt' ist, sich irgend einen Zügel anzulegen, so fanden diese Stimmen auch bei ihr Anklang, und während sonst jeder echte Engländer das entschiedenste Mißtrauen gegen stehende Heere zeigt, schien es jetzt beinahe so, als wolle man der Möglichkeit einer tüchtigen Heerentwicklung so manche der alten Rechte und Freiheiten opfern; wenigstens mußte es das Ausland so auffassen, welches nicht daran denkt, daß die Engländer es mit ihren Worten nicht so genau nehmen; daß sie um so dreister und rücksichtsloser an ihrer Verfassung rütteln, je fester sie von ihrer Unerschütterlichkeit überzeugt sind. Diese Verirrung ist jetzt, Gott sei Dank! vorüber. Die ruhige Ueber- legung tritt wieder in den Vordergrund, und man begreift, daß der augen¬ blickliche Erfolg nicht ausreicht, über festgewurzelte Institutionen zu entscheiden, an denen die Fortdauer einer Nation hängt. Die augenblickliche Noth ist vorüber; man ist nicht mehr gezwungen, um des Erfolgs der französischen Waffen willen den Bonapartismus mit in den Kauf zu nehmen. Bei den Engländern regt sich wieder der Stolz ihres reichen historischen Lebens, und in Frankreich taucht eine zwar nicht laute, aber entschlossene und folgerichtige Opposition gegen den Bonapartismus auf, als deren geistvollsten Vertreter wir den Verfasser des vorliegenden Buchs mit Freuden begrüßen. Aber man möge uns nicht mißverstehen. Für uns ist der Bonapartismus nicht identisch mit der Regierung des Kaiser Napoleon und seinem Hause. Die Dynastie kann bestehen auch ohne ihn, so wie sich die charakteristischen Erscheinungen, die sich an jenen Begriff knüpfen, auch in andern Ländern und Regierungen zeigen. Der Bonapartismus ist überall vorhanden, wo der Ge¬ walthaber das, was ihm für augenblicklich zweckmäßig gilt, über das Recht setzt, und wo das Volk seine Freiheit gering anschlägt, wenn ihm dafür mate¬ rielle Vortheile geboten werden. Der Bonapartismus ist die Erneuung des alten Systems im römischen Kaiserreich, wo die höchsten Angelegenheiten der Menschheit in der Art eines Glücksspiels entschieden wurden. Dagegen glauben wir, daß sich eine freie Verfassung im Lauf der Zeit unter der Familie Bonaparte ebensogut entwickeln kann, wie unter der Familie Bourbon. Wir sind weder Anhänger Sr. Majestät Heinrichs V., noch des Hauses Orleans, am wenigsten, wenn dasselbe sich wirklich der ältern Linie unterwerfen sollte; wir wünschen, daß Frankreich eine neue Revolution erspart

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/156
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/156>, abgerufen am 27.07.2024.