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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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auf armenischem Boden hauste und errichteten einen neuen Sitz dieser Würde,
Sie wählten zu diesem Ende eine Insel mitten im Wansee, einen trübseligen
Felsen, auf dem das Kloster Aghtamar (Aktamar) sich erhebt. An diesem
einsamen, fast unzugänglichen Orte haben sie einen ihrer Bischöfe eingesetzt
und mit dem pomphaften Namen eines Patriarchen geschmückt. Er lebte aber
nicht nur in einem Zustande von Noth, der seiner Herde Schande machte und
seine Würde erniedrigte, sondern auch in einer Vereinzelung und einem Miß-
credit, die seinem Nebenbuhler in Etschmiadsin keine Eisersucht einzuflößen im
Stande war. In der neuesten Zeit ist dieses Patriarchat auf der Insel im
Wansee wieder eingegangen. Nußland kann es nicht unterlassen, in der reli¬
giösen Politik, womit es seinen Einfluß auf die Armenier deckt, zugleich seine
Eitelkeit zu zeigen, was die Folge hat, daß die Armenier die Knechtschaft, in
welcher selbst die höchste Würde ihrer Kirche sich befindet, gar wohl fühlen,
denn über dem Patriarchcnthron des Katholikos in Etschmiadsin ist die Taube,
das Symbol des heiligen Geistes, durch den schwarzen Adler ersetzt, das Sym¬
bol der unumschränkten Gewalt, unter deren Druck der Patriarch lebt und
handelt. Während des gegenwärtigen russisch-türkischen Kriegs finden die Russen
im türkischen Armenien an den dort wohnenden Armeniern schwerlich so gute
Freunde und Bundesgenossen, wie 1829. Auf der Hochebene von Erzerum
wohnen jetzt Armenier und Muselmänner friedlich nebeneinander, der alte Re-
ligionshaß ist geschwunden und an seine Stelle ist Versöhnung und freund¬
schaftliche Annäherung getreten.

Die militärische Bedeutung, welche die Festung Erzerum durch ihre gün¬
stige geographische Lage auf der Hochebene am westlichen Fuße des armenischen
Hochgebirges hat, wird noch erhöht durch die Anlage der Straßenzüge, indem
alle Straßen, welche aus dem russischen Georgien nach der Türkei führen, in
Erzerum zusammentreffen und sich von da an wieder nach allen Richtungen hin
Verzweigen, wie umgekehrt alle Straßen, welche aus der Türkei nach Georgien
hineinführen, in Tiflis zusammentreffen, so daß Erzerum und Tiflis wechsel¬
seitig die natürlichen Objecte eines Feldzugs auf diesem Theile des russisch¬
türkischen Kriegstheaters sind. Beide Objecte, die Hauptstadt des türkischen
Armeniens und die Hauptstadt der transkaukasischen Provinzen Rußlands
werden durch drei Hauptstraßen miteinander verbunden: die nördlichste führt
durch das Thal des Kur über Achalzyk; die südlichste geht über Eriwan und
bei Toprak-Kate über den Ala-Dagl); die mittlere hat zwei Verzweigungen, die
in Kars (im Nebenthale des Arya-Tschai) zusammentreffen, nämlich die Straße
Von Tiflis über Gumri oder über Tschalka und Achalkalaki. Von Kars führt sie
dann thalaufwärts am Arares und vereinigt sich bei Hassan-Kate mit der vori¬
gen oder der südlichen. Die erstere oder die nördliche Hauptstraße wird durch
die Festungen Azkur, Achalzyk und Ardaghan vertheidigt und war früher, als


auf armenischem Boden hauste und errichteten einen neuen Sitz dieser Würde,
Sie wählten zu diesem Ende eine Insel mitten im Wansee, einen trübseligen
Felsen, auf dem das Kloster Aghtamar (Aktamar) sich erhebt. An diesem
einsamen, fast unzugänglichen Orte haben sie einen ihrer Bischöfe eingesetzt
und mit dem pomphaften Namen eines Patriarchen geschmückt. Er lebte aber
nicht nur in einem Zustande von Noth, der seiner Herde Schande machte und
seine Würde erniedrigte, sondern auch in einer Vereinzelung und einem Miß-
credit, die seinem Nebenbuhler in Etschmiadsin keine Eisersucht einzuflößen im
Stande war. In der neuesten Zeit ist dieses Patriarchat auf der Insel im
Wansee wieder eingegangen. Nußland kann es nicht unterlassen, in der reli¬
giösen Politik, womit es seinen Einfluß auf die Armenier deckt, zugleich seine
Eitelkeit zu zeigen, was die Folge hat, daß die Armenier die Knechtschaft, in
welcher selbst die höchste Würde ihrer Kirche sich befindet, gar wohl fühlen,
denn über dem Patriarchcnthron des Katholikos in Etschmiadsin ist die Taube,
das Symbol des heiligen Geistes, durch den schwarzen Adler ersetzt, das Sym¬
bol der unumschränkten Gewalt, unter deren Druck der Patriarch lebt und
handelt. Während des gegenwärtigen russisch-türkischen Kriegs finden die Russen
im türkischen Armenien an den dort wohnenden Armeniern schwerlich so gute
Freunde und Bundesgenossen, wie 1829. Auf der Hochebene von Erzerum
wohnen jetzt Armenier und Muselmänner friedlich nebeneinander, der alte Re-
ligionshaß ist geschwunden und an seine Stelle ist Versöhnung und freund¬
schaftliche Annäherung getreten.

Die militärische Bedeutung, welche die Festung Erzerum durch ihre gün¬
stige geographische Lage auf der Hochebene am westlichen Fuße des armenischen
Hochgebirges hat, wird noch erhöht durch die Anlage der Straßenzüge, indem
alle Straßen, welche aus dem russischen Georgien nach der Türkei führen, in
Erzerum zusammentreffen und sich von da an wieder nach allen Richtungen hin
Verzweigen, wie umgekehrt alle Straßen, welche aus der Türkei nach Georgien
hineinführen, in Tiflis zusammentreffen, so daß Erzerum und Tiflis wechsel¬
seitig die natürlichen Objecte eines Feldzugs auf diesem Theile des russisch¬
türkischen Kriegstheaters sind. Beide Objecte, die Hauptstadt des türkischen
Armeniens und die Hauptstadt der transkaukasischen Provinzen Rußlands
werden durch drei Hauptstraßen miteinander verbunden: die nördlichste führt
durch das Thal des Kur über Achalzyk; die südlichste geht über Eriwan und
bei Toprak-Kate über den Ala-Dagl); die mittlere hat zwei Verzweigungen, die
in Kars (im Nebenthale des Arya-Tschai) zusammentreffen, nämlich die Straße
Von Tiflis über Gumri oder über Tschalka und Achalkalaki. Von Kars führt sie
dann thalaufwärts am Arares und vereinigt sich bei Hassan-Kate mit der vori¬
gen oder der südlichen. Die erstere oder die nördliche Hauptstraße wird durch
die Festungen Azkur, Achalzyk und Ardaghan vertheidigt und war früher, als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/98>, abgerufen am 23.07.2024.