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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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ordnete und vielfach sich widersprechende Gesetze, eine ruinirende Procedur
ohne Oeffentlichkeit, eine barbarische Strafgesetzgebung, Bestechlichkeit des
Richterstandes, Willkürherrschaft der Polizei und Leibeigenschaft.

Dieselbe Politik, welche im Innern unbeschränkte Alleinherrschaft erstrebte,
nahm nach Außen die Suprematie in Anspruch. Knechtschaft und Unwissenheit
im Innern, Krieg und Eroberung nach Außen waren die Bedingungen des
autokratischen Systems. Es fragt sich nur, ob die gegenwärtigen materiellen
Kräfte Rußlands zu Krieg und Eroberung ausreichen. Ein russischer Staats¬
mann und Publicist, Herr v. Tengoborski, versicherte vor mehrern Monaten,
daß die russische Armee, die 1853 8 bis 900,000 Mann betragen habe, auf
1,250,000 werde gebracht und daß die Unterhaltung dieser Armee, da jeder
Manu jährlich 400 Franken koste, 300 Millionen Franken erfordern werde.
Hiernach ist die russische Armee zahlreicher und wohlfeiler zu unterhalten, als
die Armee irgendeines andern europäischen Staates; aber die Ereignisse der
letzten Jahre haben bewiesen, daß sie in moralischer und taktischer Beziehung
anderen Armeen nicht gewachsen ist. Nun hat Rußland freilich außer seiner
Armee noch zwei gewaltige Vertheidigungsmittel: das Klima und die Ent¬
fernungen, aber diese Mittel nützen nur gegen den Invasionskrieg, zum Er¬
oberungskrieg Rußlands helfen sie so wenig wie die russische Armee.

Untersuchen wir ferner die finanziellen Kräfte Rußlands. Nach Herrn
v. Tengoboröki betrugen die Einkünfte Rußlands im Jahre -1833 897,232,000
Franken (224,308,000 Rubel.) In diesem Budget figurirten die Ausgaben
für eine Armee von 900,000 Mann mit 336,800,000 Franken und die Aus¬
gaben für die Marine mit 57,000,000 Franken. Zusammen betrug also das
Militärbudget 394,400,000 Franken. Durch eine Vermehrung der Land¬
armee mit 450,000 Man", welche 200 Millionen koste", müßte demnach das
Militärbudget für das Jahr 1854 524 Millione" betragen. Diese Summe
gibt aber nur die Kosten für den Cffectivbestand an; die Kosten sür die
Truppenmärsche, für das Material, für die Munition sind nicht mit einbe¬
griffen. Veranschlagt ma" diese Kosten auf 100 Millionen, so müssen die
Ausgaben Rußlands für das Jahr 1854 überhaupt 1200 Millionen be¬
tragen.

Nach Herrn v. Tengoboröki betrugen die Einnahmen Rußlands 1853
897,232,000 Franken und erreichte die Verminderung der Einnahmen im Jahre
1834 höchstens eine Summe von 57 Millionen Franken, so daß die Einnahmen
Rußlands 1854 etwa 840 Millionen Franken betrüge". Rechnet man nun
auch, daß die Einnahmen in diesem Jahre durch die Emission von Scrienbillets
um 60 Millionen, durch den Ertrag der russischen Anleihe um 100 Millionen,
durch die Besteuerung der geistlichen Güter und durch die freiwilligen Ge¬
schenke ebenfalls um 100 Millionen vermehrt worden sind, so bleibt doch bei


ordnete und vielfach sich widersprechende Gesetze, eine ruinirende Procedur
ohne Oeffentlichkeit, eine barbarische Strafgesetzgebung, Bestechlichkeit des
Richterstandes, Willkürherrschaft der Polizei und Leibeigenschaft.

Dieselbe Politik, welche im Innern unbeschränkte Alleinherrschaft erstrebte,
nahm nach Außen die Suprematie in Anspruch. Knechtschaft und Unwissenheit
im Innern, Krieg und Eroberung nach Außen waren die Bedingungen des
autokratischen Systems. Es fragt sich nur, ob die gegenwärtigen materiellen
Kräfte Rußlands zu Krieg und Eroberung ausreichen. Ein russischer Staats¬
mann und Publicist, Herr v. Tengoborski, versicherte vor mehrern Monaten,
daß die russische Armee, die 1853 8 bis 900,000 Mann betragen habe, auf
1,250,000 werde gebracht und daß die Unterhaltung dieser Armee, da jeder
Manu jährlich 400 Franken koste, 300 Millionen Franken erfordern werde.
Hiernach ist die russische Armee zahlreicher und wohlfeiler zu unterhalten, als
die Armee irgendeines andern europäischen Staates; aber die Ereignisse der
letzten Jahre haben bewiesen, daß sie in moralischer und taktischer Beziehung
anderen Armeen nicht gewachsen ist. Nun hat Rußland freilich außer seiner
Armee noch zwei gewaltige Vertheidigungsmittel: das Klima und die Ent¬
fernungen, aber diese Mittel nützen nur gegen den Invasionskrieg, zum Er¬
oberungskrieg Rußlands helfen sie so wenig wie die russische Armee.

Untersuchen wir ferner die finanziellen Kräfte Rußlands. Nach Herrn
v. Tengoboröki betrugen die Einkünfte Rußlands im Jahre -1833 897,232,000
Franken (224,308,000 Rubel.) In diesem Budget figurirten die Ausgaben
für eine Armee von 900,000 Mann mit 336,800,000 Franken und die Aus¬
gaben für die Marine mit 57,000,000 Franken. Zusammen betrug also das
Militärbudget 394,400,000 Franken. Durch eine Vermehrung der Land¬
armee mit 450,000 Man», welche 200 Millionen koste», müßte demnach das
Militärbudget für das Jahr 1854 524 Millione» betragen. Diese Summe
gibt aber nur die Kosten für den Cffectivbestand an; die Kosten sür die
Truppenmärsche, für das Material, für die Munition sind nicht mit einbe¬
griffen. Veranschlagt ma» diese Kosten auf 100 Millionen, so müssen die
Ausgaben Rußlands für das Jahr 1854 überhaupt 1200 Millionen be¬
tragen.

Nach Herrn v. Tengoboröki betrugen die Einnahmen Rußlands 1853
897,232,000 Franken und erreichte die Verminderung der Einnahmen im Jahre
1834 höchstens eine Summe von 57 Millionen Franken, so daß die Einnahmen
Rußlands 1854 etwa 840 Millionen Franken betrüge». Rechnet man nun
auch, daß die Einnahmen in diesem Jahre durch die Emission von Scrienbillets
um 60 Millionen, durch den Ertrag der russischen Anleihe um 100 Millionen,
durch die Besteuerung der geistlichen Güter und durch die freiwilligen Ge¬
schenke ebenfalls um 100 Millionen vermehrt worden sind, so bleibt doch bei


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[0061] ordnete und vielfach sich widersprechende Gesetze, eine ruinirende Procedur ohne Oeffentlichkeit, eine barbarische Strafgesetzgebung, Bestechlichkeit des Richterstandes, Willkürherrschaft der Polizei und Leibeigenschaft. Dieselbe Politik, welche im Innern unbeschränkte Alleinherrschaft erstrebte, nahm nach Außen die Suprematie in Anspruch. Knechtschaft und Unwissenheit im Innern, Krieg und Eroberung nach Außen waren die Bedingungen des autokratischen Systems. Es fragt sich nur, ob die gegenwärtigen materiellen Kräfte Rußlands zu Krieg und Eroberung ausreichen. Ein russischer Staats¬ mann und Publicist, Herr v. Tengoborski, versicherte vor mehrern Monaten, daß die russische Armee, die 1853 8 bis 900,000 Mann betragen habe, auf 1,250,000 werde gebracht und daß die Unterhaltung dieser Armee, da jeder Manu jährlich 400 Franken koste, 300 Millionen Franken erfordern werde. Hiernach ist die russische Armee zahlreicher und wohlfeiler zu unterhalten, als die Armee irgendeines andern europäischen Staates; aber die Ereignisse der letzten Jahre haben bewiesen, daß sie in moralischer und taktischer Beziehung anderen Armeen nicht gewachsen ist. Nun hat Rußland freilich außer seiner Armee noch zwei gewaltige Vertheidigungsmittel: das Klima und die Ent¬ fernungen, aber diese Mittel nützen nur gegen den Invasionskrieg, zum Er¬ oberungskrieg Rußlands helfen sie so wenig wie die russische Armee. Untersuchen wir ferner die finanziellen Kräfte Rußlands. Nach Herrn v. Tengoboröki betrugen die Einkünfte Rußlands im Jahre -1833 897,232,000 Franken (224,308,000 Rubel.) In diesem Budget figurirten die Ausgaben für eine Armee von 900,000 Mann mit 336,800,000 Franken und die Aus¬ gaben für die Marine mit 57,000,000 Franken. Zusammen betrug also das Militärbudget 394,400,000 Franken. Durch eine Vermehrung der Land¬ armee mit 450,000 Man», welche 200 Millionen koste», müßte demnach das Militärbudget für das Jahr 1854 524 Millione» betragen. Diese Summe gibt aber nur die Kosten für den Cffectivbestand an; die Kosten sür die Truppenmärsche, für das Material, für die Munition sind nicht mit einbe¬ griffen. Veranschlagt ma» diese Kosten auf 100 Millionen, so müssen die Ausgaben Rußlands für das Jahr 1854 überhaupt 1200 Millionen be¬ tragen. Nach Herrn v. Tengoboröki betrugen die Einnahmen Rußlands 1853 897,232,000 Franken und erreichte die Verminderung der Einnahmen im Jahre 1834 höchstens eine Summe von 57 Millionen Franken, so daß die Einnahmen Rußlands 1854 etwa 840 Millionen Franken betrüge». Rechnet man nun auch, daß die Einnahmen in diesem Jahre durch die Emission von Scrienbillets um 60 Millionen, durch den Ertrag der russischen Anleihe um 100 Millionen, durch die Besteuerung der geistlichen Güter und durch die freiwilligen Ge¬ schenke ebenfalls um 100 Millionen vermehrt worden sind, so bleibt doch bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/61>, abgerufen am 23.07.2024.