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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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gangs eindringen möge, der eine Hauptfactor, das künstlerisch begabte Indi¬
viduum selbst, räh Talent und Genie in seiner unmittelbaren Naturbestimmt¬
heit, bleibt einfach eine Thatsache, ein Gegebenes, das man zu nehmen hat
wie eS ist und dessen Bedingungen rückwärts zu verfolgen jeder historischen
Analyse und jeder philosophischen Construction schlechthin versagt ist. In der
Art, wie sich die gesunde und unerschöpflich reiche N.'tnrkraft Mozarts inner¬
halb der gegebenen Verhältnisse regt und ausbreitet, liegt übrigens manches,
was für aufstrebende Talente, wenn sie es ehrlich meinen, tröstlich und er¬
mutigend, für Naturen aber, die nach leeren Idealen haschen, überaus be¬
schämend ist. Mozart war gewiß eine musikalisch begabte Natur wie irgend¬
eine. Die Feinheit und physiologische Reizbarkeit des Gehörs, die ihn als
Kind die Stimmung zweier Violinen bis auf einen halben Viertelion unter¬
scheiden ließ, und ihm den Ton einer Trompete ohne Verbindung mit andern
Instrumenten bis zur Gefahr einer Ohnmacht unerträglich machte; die sichere
und momentane Leistungsfähigkeit, mit welcher er als heranwachsender Knabe
jede musikalische Aufgabe, die ihm ohne Rücksicht aus sein Alter vorgelegt
wurde, prompt und sachgemäß zu lösen im Stande war; die Fassungskraft,
die ihn befähigte, Allcgris Miserere nach einmaligem Anhören aus dem Ge¬
dächtniß aufzuschreiben d. h. im Grunde: es repre-l'ucirend selbst zu compo-
niren; -- diese und eine Menge ähnlicher Züge sind Aeußerungen einer gei¬
stigen Individualität, deren, angeborne Heimath das Reich der Töne ist; der¬
gleichen Dinge laufen überdies neben dem Reichthum und der Schönheit seiner
eignen Schöpfungen fast nur äußerlich nebenher. , Und dennoch sehen wir
diese reichbegabte Natur nirgend ungehalten über die zum Theil wirklich engen
Formen der damaligen Kunstübung; nicht blos der Knabe, sondern auch der
Jüngling bewegt sich gern und eifrig innerhalb ihrer Schranken; er macht an
und in ihnen, wenn auch in der früheren Zeit unter der Leitung des ver¬
ständigen Vaters, eine ernste, strenge, geduldige Schule. Aber er sucht ihnen
abzugewinnen, was sich ihnen abgewinnen läßt; er weiß, ohne sie gewaltsam
zu zerbrechen, ihnen eine" Inhalt zu geben, der seinem künstlerischen Sinne
entspricht; er findet seine Befriedigung nicht an den Formen selbst, sondern an
der Art, wie er sie behandelt und ausfüllt. Für uns, die^wir gewohnt sind,
daß der Künstler und das Kunstwerk seine Bedingungen schlechthin fordert,
und es begreiflich finden, wenn der erstere sich in seinem Schöpferdrange so¬
gleich gelähmt fühlt, wenn ihm diese Bedingungen nicht geboten werden,
macht es einen fast wehmüthigen Eindruck zu sehen, wie Mozart bei seinen Com-
positionen bald auf den-Geschmack des PubUetimS^ bald auf die Launen und die
Kehlen der Sänger und Sängerinnen, bald auf die Besetzung des Orchesters, bald
auf das Verhältniß zwischen Sänger und Orchester, bald aus die Neigungen und
Idiosynkrasien dieses oder jenes großen Herrn Rücksicht nehmen muß. Mozart


gangs eindringen möge, der eine Hauptfactor, das künstlerisch begabte Indi¬
viduum selbst, räh Talent und Genie in seiner unmittelbaren Naturbestimmt¬
heit, bleibt einfach eine Thatsache, ein Gegebenes, das man zu nehmen hat
wie eS ist und dessen Bedingungen rückwärts zu verfolgen jeder historischen
Analyse und jeder philosophischen Construction schlechthin versagt ist. In der
Art, wie sich die gesunde und unerschöpflich reiche N.'tnrkraft Mozarts inner¬
halb der gegebenen Verhältnisse regt und ausbreitet, liegt übrigens manches,
was für aufstrebende Talente, wenn sie es ehrlich meinen, tröstlich und er¬
mutigend, für Naturen aber, die nach leeren Idealen haschen, überaus be¬
schämend ist. Mozart war gewiß eine musikalisch begabte Natur wie irgend¬
eine. Die Feinheit und physiologische Reizbarkeit des Gehörs, die ihn als
Kind die Stimmung zweier Violinen bis auf einen halben Viertelion unter¬
scheiden ließ, und ihm den Ton einer Trompete ohne Verbindung mit andern
Instrumenten bis zur Gefahr einer Ohnmacht unerträglich machte; die sichere
und momentane Leistungsfähigkeit, mit welcher er als heranwachsender Knabe
jede musikalische Aufgabe, die ihm ohne Rücksicht aus sein Alter vorgelegt
wurde, prompt und sachgemäß zu lösen im Stande war; die Fassungskraft,
die ihn befähigte, Allcgris Miserere nach einmaligem Anhören aus dem Ge¬
dächtniß aufzuschreiben d. h. im Grunde: es repre-l'ucirend selbst zu compo-
niren; — diese und eine Menge ähnlicher Züge sind Aeußerungen einer gei¬
stigen Individualität, deren, angeborne Heimath das Reich der Töne ist; der¬
gleichen Dinge laufen überdies neben dem Reichthum und der Schönheit seiner
eignen Schöpfungen fast nur äußerlich nebenher. , Und dennoch sehen wir
diese reichbegabte Natur nirgend ungehalten über die zum Theil wirklich engen
Formen der damaligen Kunstübung; nicht blos der Knabe, sondern auch der
Jüngling bewegt sich gern und eifrig innerhalb ihrer Schranken; er macht an
und in ihnen, wenn auch in der früheren Zeit unter der Leitung des ver¬
ständigen Vaters, eine ernste, strenge, geduldige Schule. Aber er sucht ihnen
abzugewinnen, was sich ihnen abgewinnen läßt; er weiß, ohne sie gewaltsam
zu zerbrechen, ihnen eine» Inhalt zu geben, der seinem künstlerischen Sinne
entspricht; er findet seine Befriedigung nicht an den Formen selbst, sondern an
der Art, wie er sie behandelt und ausfüllt. Für uns, die^wir gewohnt sind,
daß der Künstler und das Kunstwerk seine Bedingungen schlechthin fordert,
und es begreiflich finden, wenn der erstere sich in seinem Schöpferdrange so¬
gleich gelähmt fühlt, wenn ihm diese Bedingungen nicht geboten werden,
macht es einen fast wehmüthigen Eindruck zu sehen, wie Mozart bei seinen Com-
positionen bald auf den-Geschmack des PubUetimS^ bald auf die Launen und die
Kehlen der Sänger und Sängerinnen, bald auf die Besetzung des Orchesters, bald
auf das Verhältniß zwischen Sänger und Orchester, bald aus die Neigungen und
Idiosynkrasien dieses oder jenes großen Herrn Rücksicht nehmen muß. Mozart


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[0053] gangs eindringen möge, der eine Hauptfactor, das künstlerisch begabte Indi¬ viduum selbst, räh Talent und Genie in seiner unmittelbaren Naturbestimmt¬ heit, bleibt einfach eine Thatsache, ein Gegebenes, das man zu nehmen hat wie eS ist und dessen Bedingungen rückwärts zu verfolgen jeder historischen Analyse und jeder philosophischen Construction schlechthin versagt ist. In der Art, wie sich die gesunde und unerschöpflich reiche N.'tnrkraft Mozarts inner¬ halb der gegebenen Verhältnisse regt und ausbreitet, liegt übrigens manches, was für aufstrebende Talente, wenn sie es ehrlich meinen, tröstlich und er¬ mutigend, für Naturen aber, die nach leeren Idealen haschen, überaus be¬ schämend ist. Mozart war gewiß eine musikalisch begabte Natur wie irgend¬ eine. Die Feinheit und physiologische Reizbarkeit des Gehörs, die ihn als Kind die Stimmung zweier Violinen bis auf einen halben Viertelion unter¬ scheiden ließ, und ihm den Ton einer Trompete ohne Verbindung mit andern Instrumenten bis zur Gefahr einer Ohnmacht unerträglich machte; die sichere und momentane Leistungsfähigkeit, mit welcher er als heranwachsender Knabe jede musikalische Aufgabe, die ihm ohne Rücksicht aus sein Alter vorgelegt wurde, prompt und sachgemäß zu lösen im Stande war; die Fassungskraft, die ihn befähigte, Allcgris Miserere nach einmaligem Anhören aus dem Ge¬ dächtniß aufzuschreiben d. h. im Grunde: es repre-l'ucirend selbst zu compo- niren; — diese und eine Menge ähnlicher Züge sind Aeußerungen einer gei¬ stigen Individualität, deren, angeborne Heimath das Reich der Töne ist; der¬ gleichen Dinge laufen überdies neben dem Reichthum und der Schönheit seiner eignen Schöpfungen fast nur äußerlich nebenher. , Und dennoch sehen wir diese reichbegabte Natur nirgend ungehalten über die zum Theil wirklich engen Formen der damaligen Kunstübung; nicht blos der Knabe, sondern auch der Jüngling bewegt sich gern und eifrig innerhalb ihrer Schranken; er macht an und in ihnen, wenn auch in der früheren Zeit unter der Leitung des ver¬ ständigen Vaters, eine ernste, strenge, geduldige Schule. Aber er sucht ihnen abzugewinnen, was sich ihnen abgewinnen läßt; er weiß, ohne sie gewaltsam zu zerbrechen, ihnen eine» Inhalt zu geben, der seinem künstlerischen Sinne entspricht; er findet seine Befriedigung nicht an den Formen selbst, sondern an der Art, wie er sie behandelt und ausfüllt. Für uns, die^wir gewohnt sind, daß der Künstler und das Kunstwerk seine Bedingungen schlechthin fordert, und es begreiflich finden, wenn der erstere sich in seinem Schöpferdrange so¬ gleich gelähmt fühlt, wenn ihm diese Bedingungen nicht geboten werden, macht es einen fast wehmüthigen Eindruck zu sehen, wie Mozart bei seinen Com- positionen bald auf den-Geschmack des PubUetimS^ bald auf die Launen und die Kehlen der Sänger und Sängerinnen, bald auf die Besetzung des Orchesters, bald auf das Verhältniß zwischen Sänger und Orchester, bald aus die Neigungen und Idiosynkrasien dieses oder jenes großen Herrn Rücksicht nehmen muß. Mozart

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/53>, abgerufen am 23.07.2024.