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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Konradin Creutzer, ferner Reissiger in Dresden und Löw in Stettin. Freilich
finden sich in den vortrefflichen Leistungen dieser Männer auch manche Zeichen
einer falschen Richtung. Die zarte Gattung verbildete sich zur Süßlichkeit,
der Humor artete in täppisches Wesen aus. In der Sucht etwas Neues zu
liefern, kamen die Tonsetzer auf Abarten, die dem Wesen der wahren Kunst
widerstreben.

Die größte Ausbreitung erlebte das Sängerwesen in den dreißiger und
vierziger Jahren. Die Schwaben machten den Anfang. Seit 1833 vereinig¬
ten sich eine Reihe niedersächstscher und westphälischer Liedertafeln zu einem
Sängerbund, der sich unter andern 1841 bei der Grundsteinlegung des Her¬
manndenkmals betheiligte. Eine besonders hervortretende nationale Bedeu¬
tung gewann der Männergesang in Schleswig-Holstein, wo er von vorn¬
herein eine patriotische Richtung hatte. Im übrigen Deutschland entwickelten
sich die Sängervereine und Sängerfeste erst nach und nach zu Volksfesten.
Ganz anders in Schleswig-Holstein. Hier gingen daS öffentliche Leben und
die Volksfeste voran, und aus denselben heraus bildeten sich die Gesangver¬
eine. Im größten Stil entwickelte sich der Männergesang am Rhein bei den
allgemeinen Musikfesten, und von hier aus wurde auch vorzugsweise die Idee
des einigen, zunächst singenden Deutschland vertreten. Das Würzburger Sän¬
gerfest 1845 war die erste Vereinigung zwischen Süd- und Norddeutschland.
Der Unterschied der Stände war aufgehoben; es gab fast kein "Sie" mehr,
alles brauchte das trauliche "Du". Durch alle Lieder, Toaste und Reden
ging der Gedanke von einem einigen, starken, freien deutschen Vaterland. Ei¬
nen ähnlichen Charakter hatte das deutsche Sängerfest in Köln 1846, das eid¬
genössische Sängerfest in Schaffhausen 1846. . Die Unruhen der Jahre 1848
und'1849 unterbrachen dieses harmlose, behagliche Treiben; daß es aber da¬
durch nicht ganz aufgehoben ist, wird den Lesern,der Grenzboten aus der Schil¬
derung des düsseldorser Musikfestes noch in der Erinnerung sein.

Ueber die nützliche und schädliche Einwirkung des Männergesangs auf die
Kunst haben wir uns früher in einer ausführlichen Abhandlung ausgespro¬
chen. Viel wichtiger ist aber der Einfluß desselben auf unser geselliges Le¬
ben. Der Deutsche ist im Ganzen unbehilflich in seinen geselligen Formen;
eS ist ihm nur da gemüthlich, wo er sich zu Hause findet, und er braucht eine
gewisse Erregung, um sich frei und unbefangen zu bewegen. Darum sind für
jeden, der sie durchgemacht, die Erinnerungen deS Studentenlebens so reizend,
da man dasselbe als eine ununterbrochene Erregung betrachten kann. Durch
die Liederfeste gewinnen nun sämmtliche Stände und Altersstufen festliche Stun¬
den , die gewissermaßen dem Studentenleben parallellaufen; und wenn wir
den bleibenden Werth derselben auch nicht zu hoch anschlagen, wenn wir auch
nicht glauben, daß die .Verbrüderung der einzelnen Personen den Moment der


Konradin Creutzer, ferner Reissiger in Dresden und Löw in Stettin. Freilich
finden sich in den vortrefflichen Leistungen dieser Männer auch manche Zeichen
einer falschen Richtung. Die zarte Gattung verbildete sich zur Süßlichkeit,
der Humor artete in täppisches Wesen aus. In der Sucht etwas Neues zu
liefern, kamen die Tonsetzer auf Abarten, die dem Wesen der wahren Kunst
widerstreben.

Die größte Ausbreitung erlebte das Sängerwesen in den dreißiger und
vierziger Jahren. Die Schwaben machten den Anfang. Seit 1833 vereinig¬
ten sich eine Reihe niedersächstscher und westphälischer Liedertafeln zu einem
Sängerbund, der sich unter andern 1841 bei der Grundsteinlegung des Her¬
manndenkmals betheiligte. Eine besonders hervortretende nationale Bedeu¬
tung gewann der Männergesang in Schleswig-Holstein, wo er von vorn¬
herein eine patriotische Richtung hatte. Im übrigen Deutschland entwickelten
sich die Sängervereine und Sängerfeste erst nach und nach zu Volksfesten.
Ganz anders in Schleswig-Holstein. Hier gingen daS öffentliche Leben und
die Volksfeste voran, und aus denselben heraus bildeten sich die Gesangver¬
eine. Im größten Stil entwickelte sich der Männergesang am Rhein bei den
allgemeinen Musikfesten, und von hier aus wurde auch vorzugsweise die Idee
des einigen, zunächst singenden Deutschland vertreten. Das Würzburger Sän¬
gerfest 1845 war die erste Vereinigung zwischen Süd- und Norddeutschland.
Der Unterschied der Stände war aufgehoben; es gab fast kein „Sie" mehr,
alles brauchte das trauliche „Du". Durch alle Lieder, Toaste und Reden
ging der Gedanke von einem einigen, starken, freien deutschen Vaterland. Ei¬
nen ähnlichen Charakter hatte das deutsche Sängerfest in Köln 1846, das eid¬
genössische Sängerfest in Schaffhausen 1846. . Die Unruhen der Jahre 1848
und'1849 unterbrachen dieses harmlose, behagliche Treiben; daß es aber da¬
durch nicht ganz aufgehoben ist, wird den Lesern,der Grenzboten aus der Schil¬
derung des düsseldorser Musikfestes noch in der Erinnerung sein.

Ueber die nützliche und schädliche Einwirkung des Männergesangs auf die
Kunst haben wir uns früher in einer ausführlichen Abhandlung ausgespro¬
chen. Viel wichtiger ist aber der Einfluß desselben auf unser geselliges Le¬
ben. Der Deutsche ist im Ganzen unbehilflich in seinen geselligen Formen;
eS ist ihm nur da gemüthlich, wo er sich zu Hause findet, und er braucht eine
gewisse Erregung, um sich frei und unbefangen zu bewegen. Darum sind für
jeden, der sie durchgemacht, die Erinnerungen deS Studentenlebens so reizend,
da man dasselbe als eine ununterbrochene Erregung betrachten kann. Durch
die Liederfeste gewinnen nun sämmtliche Stände und Altersstufen festliche Stun¬
den , die gewissermaßen dem Studentenleben parallellaufen; und wenn wir
den bleibenden Werth derselben auch nicht zu hoch anschlagen, wenn wir auch
nicht glauben, daß die .Verbrüderung der einzelnen Personen den Moment der


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[0518] Konradin Creutzer, ferner Reissiger in Dresden und Löw in Stettin. Freilich finden sich in den vortrefflichen Leistungen dieser Männer auch manche Zeichen einer falschen Richtung. Die zarte Gattung verbildete sich zur Süßlichkeit, der Humor artete in täppisches Wesen aus. In der Sucht etwas Neues zu liefern, kamen die Tonsetzer auf Abarten, die dem Wesen der wahren Kunst widerstreben. Die größte Ausbreitung erlebte das Sängerwesen in den dreißiger und vierziger Jahren. Die Schwaben machten den Anfang. Seit 1833 vereinig¬ ten sich eine Reihe niedersächstscher und westphälischer Liedertafeln zu einem Sängerbund, der sich unter andern 1841 bei der Grundsteinlegung des Her¬ manndenkmals betheiligte. Eine besonders hervortretende nationale Bedeu¬ tung gewann der Männergesang in Schleswig-Holstein, wo er von vorn¬ herein eine patriotische Richtung hatte. Im übrigen Deutschland entwickelten sich die Sängervereine und Sängerfeste erst nach und nach zu Volksfesten. Ganz anders in Schleswig-Holstein. Hier gingen daS öffentliche Leben und die Volksfeste voran, und aus denselben heraus bildeten sich die Gesangver¬ eine. Im größten Stil entwickelte sich der Männergesang am Rhein bei den allgemeinen Musikfesten, und von hier aus wurde auch vorzugsweise die Idee des einigen, zunächst singenden Deutschland vertreten. Das Würzburger Sän¬ gerfest 1845 war die erste Vereinigung zwischen Süd- und Norddeutschland. Der Unterschied der Stände war aufgehoben; es gab fast kein „Sie" mehr, alles brauchte das trauliche „Du". Durch alle Lieder, Toaste und Reden ging der Gedanke von einem einigen, starken, freien deutschen Vaterland. Ei¬ nen ähnlichen Charakter hatte das deutsche Sängerfest in Köln 1846, das eid¬ genössische Sängerfest in Schaffhausen 1846. . Die Unruhen der Jahre 1848 und'1849 unterbrachen dieses harmlose, behagliche Treiben; daß es aber da¬ durch nicht ganz aufgehoben ist, wird den Lesern,der Grenzboten aus der Schil¬ derung des düsseldorser Musikfestes noch in der Erinnerung sein. Ueber die nützliche und schädliche Einwirkung des Männergesangs auf die Kunst haben wir uns früher in einer ausführlichen Abhandlung ausgespro¬ chen. Viel wichtiger ist aber der Einfluß desselben auf unser geselliges Le¬ ben. Der Deutsche ist im Ganzen unbehilflich in seinen geselligen Formen; eS ist ihm nur da gemüthlich, wo er sich zu Hause findet, und er braucht eine gewisse Erregung, um sich frei und unbefangen zu bewegen. Darum sind für jeden, der sie durchgemacht, die Erinnerungen deS Studentenlebens so reizend, da man dasselbe als eine ununterbrochene Erregung betrachten kann. Durch die Liederfeste gewinnen nun sämmtliche Stände und Altersstufen festliche Stun¬ den , die gewissermaßen dem Studentenleben parallellaufen; und wenn wir den bleibenden Werth derselben auch nicht zu hoch anschlagen, wenn wir auch nicht glauben, daß die .Verbrüderung der einzelnen Personen den Moment der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/518>, abgerufen am 23.07.2024.